Отрывки из романа
Опубликовано в журнале Студия, номер 15, 2011
Melitta Neumann
Wege Viele gibt es: Wege, grade oder schrдge, manche sind auch eben, doch durchs Leben fьhrt nur einer – deiner. R. Neumann |
Die Vergangenheit vergeht nicht
Ich habe mich schon immer gefragt, wie die Russlanddeutschen nach Russland gekommen sind. Meine Mutter wurde in Wolhynien geboren, nahe der damaligen polnischen Grenze. Mein Vater stammt aus WeiЯrussland. Ich und einige meiner Geschwister wurden im Schwarzmeergebiet geboren. Das irritierte mich. Ich fragte meine Eltern:
– Mama, waren wir schon immer Deutsche?
– Ja.
– Und wie sind wir nach Russland gekommen?
– WeiЯ nicht.
– Wurde dein Vater in Russland geboren?
– Vielleicht.
– Und dein GroЯvater?
– Hцr auf zu fragen.
Dann ging ich zum Vater:
– Papa, wie ist deine Familie nach Russland gekommen?
– Oh, als mein GroЯvater nach Russland kam, war da ringsum dichter Wald. Ja, Urwald. Die Bдume waren so dick, dass drei Mдnner sie nicht umfassen konnten. GroЯvater bekam eine Parzelle zugewiesen und ging zurьck, um die Familie nachzuholen. Doch als er mit dem Schubkarren und seiner Frau ankam, fand er das ihm zugewiesene Grundstьck nicht wieder. Es sah alles so gleich aus. Da nahm er sich eine andere Parzelle, und keiner bemerkte das. GroЯvater baute eine Erdhьtte und begann die Bдume zu roden, die Bьsche auszuhacken und zu verbrennen, um ein Stьck Land fьr die Aussaat freizulegen. Im Winter arbeiteten er und seine Frau als Tagelцhner. Der GroЯvater war Weber. Er ging in die ukrainischen und russischen Dцrfer und holte Garn zum Weben. Zu Hause hatte er einen Webstuhl stehen, den auch seine Frau bedienen konnte. Sie waren gute Weber. An einem Tag konnten sie bis zu zwanzig Ellen Leinwand weben. Einmal kam er sehr spдt nach Hause und begegnete einem Rudel Wцlfe. Sie schleppten seinen Hund weg. Seinen Lieblingshund. Ja, so war es. Da gab es noch eine Begebenheit…
– Und dein GroЯvater, wo kam er denn her?
– Aus Polen.
Aber Polen ist nicht Deutschland.
– Und woher ist sein Vater gekommen?
– Das weiЯ ich nicht.
Das ist die typische Antwort fьr einen Russlanddeutschen. Niemand weiЯ, woher er kommt, wer seine Ahnen sind. Sie kennen nicht immer die GroЯeltern. Mein Vater kannte noch den Namen seines UrgroЯvaters└Michael“, weil sein GroЯvater nach russischer Art Iwan Michailowitsch genannt wurde. So sind die Russlanddeutschen. Treibsand, Staub im Wind. Aber etwas hatte sie doch zusammengehalten. Wie die Heuschrecken im Flug. Wenn einer abhebt, so kommt langsam Bewegung in die Reihen. Von Generation zu Generation zogen sie ьber die Erde, suchten einen Platz fьr sich und ihre Kinder, rodeten Wдlder, bauten Hдuser, bebauten Felder, um alles wieder zu verlassen, um weiterzuziehen und irgendwo wieder neu anzufangen. Von Deutschland nach Polen, von Polen in die Ukraine, von der Ukraine nach WeiЯrussland, dann wieder in die Ukraine, wieder nach Polen, nach Deutschland, nach Russland – in den Norden, in die Sьmpfe von Archangelsk, nach Kasachstan, nach Lettland und wieder nach Deutschland. Manchmal freiwillig, manchmal nicht. Aber sie waren immer in Bewegung.
Wo ist meine Heimat? Wo sind die Spielkameraden meiner Kindheit? Wo sind die Freunde meiner Jugend? Von welchem Baum wurde dieses Blatt abgerissen? Ach, ja, vom Russlanddeutschen. Ein interessantes Volk. Pioniere, Holzfдller, Bauern, Bauleute. Wo kommen sie her? Und wo sind sie hin? Unser wolhynischer Dialekt ist ein lebendes Fossil. Das ist natьrlich Deutsch, doch fьr einen Deutschen in Deutschland fast unverstдndlich. Wer kennt denn schon solche Wцrter wie: └Burra“, └Litter“, └Emmer“ └Zukerke“, └Bolniza“, └Klozzen“? Die Jugend spricht Russisch oder Deutsch, aber sie kennt das Wolhynische nicht mehr. So leben die letzten Dinosaurier ihr Leben zu Ende. Und wenn sie auch noch ihre Eier abgelegt haben, um sich fortzupflanzen, daraus wird nichts. Das Klima hat sich verдndert.
Memoiren – Erinnerungen. Habe ich denn was zu erinnern? Ich glaube, ich habe! Sind meine Erinnerungen lehrreich? Ich weiЯ es nicht. Vielleicht sollte man nicht immer aufs Belehren aus sein. Aber man mцchte etwas hinterlassen, ein Stьck Vergangenheit in die Zukunft schicken. Wenn ich frьher in der Sowjetunion meinen Lebenslauf schreiben musste, reichten dafьr anderthalb Seiten aus dem Schulheft. Was sollte man denn da schon groЯ schreiben? Niemand wollte das lesen. Jetzt bin ich zweiundvierzig Jahre alt und schreibe meine └Memoiren“. Gewцhnlich werden sie von berьhmten Persцnlichkeiten verfasst. Wir waren nicht berьhmt. Wir wollten einfach nur ungestцrt leben. Wir wollten uns nicht hervortun, irgendwie auszeichnen. Doch wir wurden immer wieder ausgezeichnet. Wir waren Deutsche. Das hieЯ fьr die Umgebung – Fritzen, Faschisten, Feinde. Wir waren wie weiЯe Krдhen auf dem Hintergrund des allgemeinen Grau. Doch nun genug davon.
Tiege. Nr. 8. Kotschubejewka
Erinnerungen. Woran kann ein Mensch sich erinnern? Die frьheste Kindheit liegt im Nebel. Dann tauchen irgendwelche Bilder und Gesichter auf. Mit der Zeit gibt es immer mehr Zusammenhдnge. Wie war’s bei mir? An die Vorkriegszeit kann ich mich nicht erinnern. Den Tag, als der Krieg fьr Russland begann, den 22. Juni 1941 erinnere ich nur mit einer einzigen Szene. An diesem Abend blieben wir Kinder allein zu Hause, weil die Erwachsenen zu einer Versammlung anlдsslich des Krieges zwischen Deutschland und Russland gegangen waren. Damit wir uns ruhig verhielten, bekam jeder einen Lцffel sьЯen Hustensaft. Und wir schliefen alle unter einer Decke. Wir, das waren Ira, Bruno, ich und Alfred, also die Neumann-Kinder. AuЯer uns waren an diesem Abend noch Erna und Herta, die Kinder von Papas Schwester Frieda bei uns. Erna, die дlteste, war eigentlich die Stieftochter von Tante Frieda, aber das wussten wir damals nicht. Erna und Ira mussten auf uns aufpassen, deswegen lagen sie an den Seiten des Strohlagers. Das kleine Kroppzeug in der Mitte. Was die Erwachsenen in ihrer Versammlung hцrten, ging uns nichts an. Wir lebten in unserer eigenen Welt, alle sechs unter einer Decke. Die Unruhe der Erwachsenenwelt, der Krieg, das Elend, all das war noch so weit weg. Unser Leben verlief friedlich, ohne groЯe Aufregungen. Die Bilder dieser Zeit strahlen kindliche Ruhe und Zuversicht aus.
In Erinnerung blieb das Dorf mit einer schnurgeraden StraЯe, mit weiЯgekalkten Hдusern, mit zwei Reihen blьhender, duftender Akazien. Estaucht ein Hьgel auf, vermutlich ein Hьgelgrab, wie es sie in der Steppeoft gibt. An einem heiЯen Sommertag fuhren wir dort vorbei. Unsere ganzeFamilie fuhr in einer Pferdekutsche spazieren. Wir wollten Verwandtebesuchen. Die Verwandten hatten einen Kirschgarten. Wir aЯen uns an denFrьchten satt und bekamen einen Korb voll mit.Ich kann mich an unser Haus erinnern. Es stand mit dem Giebel zurStraЯe und hatte einen groЯen Hof. Vor dem Haus wuchsen Blumen inBeeten und Rabatten. Sie waren in Kreisen und Spiralen angepflanzt. Vonoben gesehen bildeten die Pflanzen ein Muster. Aber unten war nur einPflanzendickicht. Dort versteckte ich meine Puppen. Ja, meine Puppen. In Wirklichkeit waren das selbstgemachte, aus Flicken und Stoffresten zusammengebundenekleine Scheusale. Die Erwachsenen nannten sie verдchtlich └Hexen“. Unsere Diele hatte eine zweigeteilte Tьr, die eine Hдlfte unten, die andereoben. Durch diese Tьr liefen wir, um uns vor unserem Ziegenbock zuverstecken. Er konnte sehr hart stoЯen. Wir hatten Angst vor ihm. Unsere
Oma kдmpfte auch mit diesem Ziegenbock. Wenn sie in den Garten ging, versuchte er, ihr hinten in die Klozzen zu treten. └Klozzen“ mit einem weichen └s“ und mit einem offenen └o“ – so nannten wir die Holzpantinen, die unser Vater selbst anfertigte. Fьr die ganze Familie und auch zum Verkauf. Wenn der Ziegenbock wieder mal unsere Oma geдrgert hatte, schlug sie ihn mit einem StrдuЯchen Wermutkraut. Unsere Oma war eigentlich unsere Uroma. Es war diejenige, die mit dem Uropa aus Polen kam. Sie war Vaters GroЯmutter. Sie hatte mehr als ein Jahrzehnt ihren Mann, den Weber, ьberlebt und blieb in unserer Familie bis zu ihrem Tod. Sie hatte bis ins hohe Alter viel gearbeitet, war liebevoll und freundlich. Fьr uns, Kinder, war sie immer da. Noch heute erinnere ich mich, wie Papa aus dem Gefдngnis zurьckkam, aber wie man ihn abgeholt hatte, daran erinnere ich mich nicht. Im Januar 1941 wurde er abgeholt und im Herbst kam er zurьck. Ich erinnere mich an Vaters Werkstatt mit einer Katzenklappe in der Tьr. Da waren eine AuЯen- und eine Innentьr. Dazwischen ein kleiner Raum, wo man sich verstecken konnte. Ich versteckte dort meine Puppen. Unser Vater war Tischler, Zimmermann, Glaser, Schlosser und ich weiЯ nicht, was alles er noch war. Vor allem aber war er Musiker, Kapellmeister. Die Musik hatte ihm das Leben gerettet. Sein Blasorchester, das aus jungen Dorfburschen bestand, die unser Vater ausgebildet hatte, war das einzige in der ganzen Umgebung. Ohne das Orchester konnten weder die Maifeierlichkeiten, noch das Oktoberfest durchgefьhrt werden. Sein Blasorchester spielte bei allen Tagungen, Parteikonferenzen und дhnlichen Veranstaltungen. So kam es, dass er im Jahre 1937 verschont blieb, obwohl es die Obrigkeit sehr in den Fingern juckte, auch ihn zu holen.
Aber 1941 wurde er wegen einer Schlдgerei verhaftet und verurteilt. Er hatte einem Kommunisten aus dem Dorf die Fresse poliert, weil der unserer Mutter nachstellte. So erzдhlt es die Familienьberlieferung. Er kam ins Gefдngnis von Krivoj Rog. Als im Juni 41 die deutschen Truppen auf dem Vormarsch waren, hatte man die Hдftlinge in den Osten verlegen wollen. Man schickte sie mit Bewachung in einem FuЯmarsch gen Osten. Sie wurden von den deutschen Truppen ьberholt und eingekreist. Frьhmorgens liefen sie noch ьber eine LandstraЯe, aber dann kam Nebel auf. Der Nebel war so dicht, dass man weder die Ersten noch die Letzten sehen konnte. Als der Nebel sich verzogen hatte, waren auch die Wachleute verschwunden. So wurde unser Vater wie durch ein Wunder gerettet. An dem Tag, als unser Vater gerettet wurde, erlebte er eine sehr hдssliche Kriegsszene. Er erzдhlte sie nur im engsten Kreis. Ich hцrte sie, als ich schon erwachsen war. Als der Nebel sich gelichtet hatte, suchten die deutschen Soldaten, die mit ihren Motorrдdern so schnell vorgedrungen waren, die Gegend nach den Wachleuten ab. Einer versteckte sich im StraЯengraben und wurde von den Deutschen entdeckt. Der Offizier befahl einem Soldaten, ihn niederzuknallen. Der Soldat hob sein Gewehr und schoss, aber er traf nicht richtig. Sein Vorgesetzter sagte дrgerlich: └Kannst wohl nicht schieЯen, was? Er zappelt doch noch.“ Dann zog er seine Pistole, zielte dem Wachmann genau in den Kopf und drьckte ab. └So muss man das machen, kapiert?“ Unseren Vater nahmen die Deutschen in ihr Hauptquartier mit. Sie brauchten einen Dolmetscher. So schleppten sie ihn fast durch die ganze Ukraine mit, ьber Nikopol bis Mariupol am Asowschen Meer. In Nikopol hatte Vater eine Kiste neuer Lцffel entdeckt. Die Lцffel lagen zum Teil auf der StraЯe, zum Teil waren sie noch eingepackt. Es waren Lцffel aus rostfreiem Stahl. Solche hatte man damals noch nicht oft gesehen. Vater brauchte einen Lцffel und so nahm er sich einen heraus. Die anderen lieЯ er liegen. Sein ganzes weiteres Leben aЯ er nur mit diesem einen Lцffel. Es gibt diesen Lцffel bis heute in unserer Familie. In Mariupol wurden die deutschen Truppen erst mal gestoppt. Sie gruben sich fьr den Winter ein. Da sagte Vater, dass er zu seiner Familie wolle, und man lieЯ ihn ziehen. Per Anhalter schlug er sich durch und kam endlich zu uns zurьck. Und an diese Rьckkehr kann ich mich erinnern. Alles, was zum Dorf Nr. 8 gehцrt, ist mein └zu Hause“. Das Dorf wurde auch Tiege genannt. Auf Russisch hieЯ es Kotschubejewka nach dem Fьrsten Kotschubej, der den deutschen Kolonisten diese Lдndereien verkauft hatte. Das └zu Hause“ meiner Mutter ist Wolhynien und Vaters └zu Hause“ ist WeiЯrussland. Mein └zu Hause“ verlieЯen wir am 31. Oktober 1943. Fьr immer. Unser deutscher Bьrgermeister ordnete an, sich fьr den Treck nach Deutschland vorzubereiten. Nach Deutschland! Ins Reich!
Die Abfahrt
Der 31. Oktober 1943 war ein klarer, kalter Herbsttag. In der Nacht gab es Bodenfrost. Der Atem der Menschen und Tiere zeichnete sich als eine kleine Nebelwolke ab. Im Hof standen Pferdewagen. Der eine hatte ein Zeltplanendach, der andere war offen. Mutter und Oma trugen noch die letzten Sachen, Sдcke und Bьndel aus dem Haus und legten sie auf die beiden Fuhren. Sie versuchten soviel wie mцglich draufzupacken, verschnьrten alles so gut es ging. Die Kinder waren immer ein neugieriges Volk. Wir standen im Wege, liefen hin und her und hatten keine Ruhe. Die Erwachsenen дrgerten sich ьber uns, aber in Wirklichkeit gar nicht ьber uns. Ihnen war es schwer, die Heimat zu verlassen, die Hдuser, das gewohnte Leben. Vor ihnen lag eine ungewisse Zukunft. Nachts haben sie vielleicht sogar geweint, aber am Tage nahmen sie sich zusammen. Ihre Angst und ihren Verdruss, ihre Unsicherheit kamen nur manchmal als ьbertriebene Reizbarkeit zum Vorschein. Der Befehl zum Aufbruch war wahrscheinlich schon seit ein paar Wochen gegeben worden. In der Luft hing ein unheilschweres Wort: └Bolschewiken“.
Das Haus wurde auf den Kopf gestellt. Alles musste durchgesehen werden, geflickt und ausgebessert. Die Decken, die Kissen, die Kleidung der Kinder und der Erwachsenen. Mama und Tante Frieda, Vaters Schwester, nдhten, packten, nahmen das Gepackte auseinander und packten alles neu ein. Im Hause liegt alles herum: das wird mitgenommen, das nicht, das wird verschenkt oder weggegeben. Wie oft wird sich das noch wiederholen? In der Kьche liegt ein Haufen Дpfel. Sie sind schцn dunkelrot, mit glatter, glдnzender Schale. Man geht ьber sie, stolpert. Sie rollen nach allen Seiten. Auf dem Dachboden stehen Sдcke mit Getreide – Vorrat fьr das ganze nдchste Jahr, im Keller lagern Kartoffeln fьr den Winter. Eigentlich lebten die deutschen Kolonisten in der Ukraine nicht schlecht. Im ganzen Dorf wurden Hьhner geschlachtet, Schweine und anderes Kleinvieh. Unseren Ziegenbock konnte Vater nicht sofort tцten – das Messer glitt an der Kehle vorbei. Der Bock konnte sich befreien und lief ьber die Strasse zu den Nachbarn, wo Mutter versuchte, sich vor dem ganzen Entsetzen zu verstecken. Sie hatte diesen Bock mit der Babyflasche groЯgezogen. Jetzt musste sie das blutverschmierte Tier eigenhдndig ans Messer liefern. Unsere Kuh und die Fдrse wurden am Tag davor in eine Herde getrieben. Auch diese Herde ging einem unbekannten Ziel entgegen. Nachts heulten die Hunde, auch unser Hund Alex heulte die Nдchte durch. Es war unheimlich.
Der Treck
Um 10 Uhr morgens kam das Zeichen zur Abfahrt. Die Fuhren ьberschwemmten sofort die ganze StraЯe. Die Mдnner hatten sich mit ihren offenen Fuhren nach vorne durchgedrдngt. Auch unser Vater. Langsam kam der Treck in Bewegung. Die Sonne fing an, etwas wдrmer zu scheinen. Staub hing in der Luft, der berьhmte ukrainische Staub. Den ganzen Tag lief neben dem Treck unser Hund Alex. Wir nahmen ihn zu uns auf die Fuhre, aber das ist ihm nicht bekommen. Er hatte sich auf unsere Decken ьbergeben, wir mussten ihn wieder runter setzen. Er lief noch eine Weile hinterher, aber dann verschwand er.
Wir ьbernachteten in der Steppe. Frьh ging es weiter. Noch in der Dunkelheit wurden die Pferde versorgt, man sammelte die Sachen ein, zog die Kinder an und setzte sie auf die Fuhren. Es gab wieder einen Stau, als der Treck sich in Bewegung setzte. Vater lenkte sein Pferd wieder nach vorn. Wir waren irgendwo in der Mitte des Trecks. Der Abstand zwischen Vater und uns betrug ungefдhr zwanzig Fuhren.
Unsere Hьtte auf Rдdern war rappelvoll. Da waren wir, die vier Neumann-Kinder, unsere Uroma, Tante Frieda mit ihren zwei Mдdchen, Erna und Herta. Tante Frieda lebte frьher im Nachbardorf. Es hieЯ Nr. 9, oder Blumenthal. Die Familien versuchten so gut es ging zusammenzuhalten. Tante Friedas Mann wurde im Jahre 1935 als Volksfeind verhaftet und verurteilt. Er verschwand fьr immer im GULAG. 1970, nachdem Tante Frieda gestorben war, bekam die Familie eine Nachricht ьber seinen Tod. Sie lautete: └Ihr Mann Kuhnke Ewald Danilowitsch ist im Jahre
Das Wetter blieb nicht lange so schцn. Regen zog auf, es wurde kдlter. Wir ьbernachteten immer noch unter freiem Himmel. Aber einmal, als wir morgens aufwachten, lag Schnee auf unseren Decken. Alfred, unser Jьngster, wurde krank. Er weinte und quengelte, wollte zu Mama, aber Mama war gerade mit Papa zusammen auf der ersten Fuhre. Dann wollte er einen Apfel, aber die Дpfel waren in der Kьche unseres Hauses liegengeblieben. Wir дrgerten ihn und gaben ihm eine Zwiebel. Kinder kцnnen ja so hartherzig sein. Dafьr bekamen wir spдter eine Abreibung von Mama. └Er ist doch noch so klein.“ Alfred war erst drei Jahre alt und Mutters Liebling. Aber Alfred war tatsдchlich krank geworden. Es hдuften sich im Treck Fдlle von Scharlach. Deswegen hielt der Treck in einem ukrainischen Dorf. Mehrere Tage blieben wir da. Alle sдuberten sich, wie sie konnten, wuschen die Kinder und die Wдsche. In diesem Dorf wurden alle Kinder gegen Scharlach geimpft. Unsere Hauswirtin heizte den Backofen so ein, dass man kaum atmen konnte. Alle sechs Kinder mussten auf dem Backofen hocken und durften nicht runterkommen. Wir glьhten von innen und auЯen bis die Bazillen besiegt waren und sich das Fieber senkte. Nach drei Tagen ging es wieder weiter. Jetzt versuchte man fьr die Ьbernachtungen in russische oder ukrainische Dцrfer zu kommen. Manche waren nicht sehr gastfreundlich, doch sie nahmen uns auf. Andere nahmen uns nicht auf, dann schliefen wir in irgendwelchen Kuh- oder Pferdestдllen. In sieben Wochen erreichten wir die Stadt Proskurow, heute Chmelnizki. In einem kleinen Dцrfchen nahe Proskurow feierten wir Weihnachten. Das Dorf hatte den passenden Namen └Kurniki“, was so viel bedeutet wie └Rauchdorf“. Die Hдuser, vielmehr die Hьtten des Dorfes hatten keinen Rauchfang und waren schwarz vor RuЯ. Das Haus, in dem unsere Familie Quartier bezog, hatte zwar einen Schornstein, aber er funktionierte nicht, so war auch dieses Haus voller Rauch. Unser Vater nahm sich des Ofens an. Er fegte RuЯ, mauerte den Schornstein neu, und der Ofen fing an zu ziehen und zu brennen. Im Nu war der Rauch aus den zwei kleinen Stьbchen verschwunden und alle konnten durchatmen. Der arme Russe mit Namen Djadja Franja, der mit seiner Frau und einem Sдugling das Haus bewohnte, war ja so froh. Zu Weihnachten hatte Mama sogar Kuchen in diesem Ofen gebacken. Sie gab auch den Russen etwas davon. Djadja Franja streckte die Hдnde nach dem Kuchen aus und sagte immerzu: └Nje nado, nje nado“, was so viel bedeutet: └Nicht nцtig, nicht nцtig“. Diese Geste – die ausgestreckte Hand und die Worte: └nicht nцtig, nicht nцtig“ ьberlebten als Anekdote bis heute in unserer Familie.
Und plцtzlich wieder das schreckliche Wort └Russ“. In der Nacht wurden die Kinder aus dem Schlaf gerissen. Man wickelte sie irgendwie ein, bedeckte sie eilig und setzte sie auf die Fuhren. Los ging’s zur Eisenbahnstation. Im Dorf Kurniki blieben nicht wenig vergessene Sachen zurьck. Mama hatte mich irgendwie eingepackt, aber in der Eile, auf dem holprigen Weg ist alles von mir heruntergefallen. Ich bin fast erfroren. Ich weinte und schrie nach Mama. Aus irgendeinem Grund war ich auf einer fremden Fuhre. Bis Mama mich hцrte und mich rettete, war ich ganz blau und kalt wie Eis. Aber ich hatte mich nicht erkдltet.
Auf der Eisenbahnstation wurde alles eilig in die Waggons geworfen, und es ging vorwдrts ins Reich. Wir hatten es geschafft. Wir waren noch mit dem letzten Zug mitgekommen. Aber die Leute aus dem Nachbardorf, das └Orlow“ hieЯ, hatten es nicht geschafft. Orlow war ein groЯes Dorf, es hatte mehr Einwohner, deshalb warteten sie auf einen Sonderzug. Doch als der kam, war es schon zu spдt. Sie wurden eingekesselt und mussten sich einzeln durch die Frontlinie schlagen. Wie oft passierte so etwas mit den Flьchtlingen in dem Wirrwarr der damaligen Zeit! Auf die Frage: └Warum seid ihr ьberhaupt geflьchtet?“ – antwortete ich in Russland, dass das keine freiwillige Flucht war. Dass man uns ins Reich verschleppt hatte. Und im Grunde war es auch so. Wer nicht mit wollte, wurde von den Deutschen an die Wand gestellt und erschossen. So wurde ein altes Ehepaar aus dem Nachbardorf erschossen. Aber viele sind freiwillig gegangen. Sie wollten sogar so schnell wie mцglich Russland verlassen. Man muss wohl denken, dass sie ihre Grьnde dafьr gehabt hatten. Sie lieЯen alles stehen und liegen, gingen der Ungewissheit entgegen, manchmal sogar zu FuЯ. Und immer nur in den Westen.