Опубликовано в журнале Студия, номер 13, 2009
└Weiter, weiter!“ — als hätte alles rund um mich geschrieen. Noch weiter! noch schneller und freier, wir schaffen es nicht! Gib’ Gas, oh du Zeit, treib´ diese Pferde an, — dieser Wiener Fiaker bringt uns in die zeitliche Unfahrbarkeit, weg vom St. Stephans Dom! Kutscher, treibe diese verdammten Pferde, treibe die Pegassen, wir wollen die starken Pfoten der Weltwinde spüren, wir wollen das Rasseln der Räder hören — es ist das Rasseln der Jahre, so f
liegen sie weg, eins nach dem anderen, und nehmen die wunderbaren Wiener Zeiten mit sich, und wir, — wir fliegen über den Palästen, Parks, Kirchen, über dem Wiener Ring — über dem Himmel, hoch über uns sind Sterne, Sterne! meine Liebste, Sterne… sie schauen uns an, und wir schauen sie an, und sie wissen wahrlich mehr und besser als wir, egal, wie gut wir lernen und uns auf das Examen vorbereiten, — doch sind sie ungesprächig, wie der für immer erstarrte, in Silber gefärbte Straßenkünstler, dem die Touristen Moneten zuwerfen (für die bereits vergessene Unbeweglichkeit in dieser rastlosen Welt); Sterne, sie schweigen, aber es kommt mir vor, als wären sie dazu bereit, alles über diese Stadt zu erzählen, aber sie schaffen es nicht, deswegen tränen ihre Augen, ja, in der Tat, so funkeln weinende Augen, der Himmel weint und grämt sich, mein Freund, er grämt sich über seine Hilflosigkeit und seine Kraft, über das Paradoxon des Lebens insgesamt, doch wird es keiner je hören, wird es keiner je sehen können, dort oben, hinter den Sternen.Wir fliegen weg vom St. Stephans Dom, wo gleich nebenan eine Reihe altmodischer Fiaker aufgestellt ist, im Schatten des Doms — und alles in ihm strebt Tag und Nacht in die Höhe, der Drang in die Vertikale, alles in ihm strebt nach ganz oben, alleine die Vögel, die ihn bedecken, schaffen es bis zu den Wolken. All die gotischen Pfeiler träumen vom Himmel, schwärmen vom Fliegen, als ob die Erde ihnen ewig fremd wäre, doch die Gesetze der Gravitation sind streng und unerbittlich, nein, n
ie wirst du die Sphären erreichen, die dir in deinen Träumen vorkommen, dein Anliegen gehört auf die Erde, deine Füße werden die geschmeidigen Wolken nie berühren, deine Turmspitze wird das Firmament nie durchstoßen dürfen, deine Kräfte sind lächerlich, deine Gewölbe alt und schwach, dein ganzer Körper ist von Jahrhunderte alten Falten übersäet, Runzeln aus Stein, nein, deine Chimären werden die bösen Geister nie verjagen, deine Zeiten sind endgültig vorbei; aber immer noch heben die Leute ihre Blicke und bestaunen deine altfränkische Kraft, deine Turmspitze sieht man aus der Ferne, aus den benachbarten Welten, die Häuser haben dich eng umrungen, als erwarteten sie von dir etwas Unmögliches, mit all ihren Fenstern starren sie dich an, aber du bist dazu verurteilt, auf der Stelle zu bleiben, bis dich die hungrige Zeit zerfressen hat, nein, du wirst dich nie, niemals, über dem Boden erheben in den abendlichen Himmel über der Stadt. Deswegen stehst du mir so nahe. Und gleich in der Nachbarschaft liegt der Graben, das Zentrum des öffentlichen Lebens; wir sehen Tausende von Beinen, die herumlaufen, irgendwohin eilen, wir sehen Millionen von Händen, die den anderen Händen auf irgendwas zeigen, Hände, die Tüten, Taschen forttragen, wir sehen Taschen, die die Hände wegtragen, hinter sich ziehen, und schau — da sind auch die Schaufensterpuppen, und schon kann man nicht mehr klar sagen, wo der Mensch und wo die Puppe ist. Irgendwo dort am Graben wandern die literarischen Gespenster von Thomas Bernhard. Auf den Fassaden hat sich die Millionenbevölkerung aus Gips und Stein niedergelassen, Skulpturen, welche die prächtigen Häuser zieren, — diese Bevölkerung aus Stein überragt an der Zahl die der Menschen. Auf dem Türmchen eines der Dächer ist ein Reiter erstarrt, und er schaut zurück, und erkennt doch verwundert, dass er zu weit nach vorne geflogen ist, um Hunderte von Jahren, denn er hat sein ganzes Heer zurückgelassen, — die Zeiten der Siege kommen nicht nach. Hier an dieser Ecke fängt der Kohlmarkt an, und an seinem Ende erhebt sich in die Höhe die Kuppel des Palastes, und man weiß nicht, ob es der Buckel eines Kamels ist oder ein herrlich verzierter Helm eines Riesenkriegers. Auf dem Michaelerplatz geraten wir wie immer in die Arme der Hofburg mit ihren zwei großen Flügeln, und etwas weiter öffnet sich der Heldenplatz, ein großräumiger Lager der unsichtbaren Geschichte.Wir fliegen — den Berg hoch, durch die Tunnel, an den Ufern des Universums vorbei, über dem Pflaster der Gegenwart, wir verarbeiten die Zukunft in die Vergangenheit, — oh, das können wir zu gut! — aber man möchte doch für eine Stunde die Gesetze der Welt umkehren, umstoßen, ach, mit der Linken, in jedem Augenblick! Gleich, gleich schaffe ich es, schau her, meine Liebe, mein Freund, meine Trauer, meine Sehnsu
cht, es sind so viele von euch da, — nein, du bist alleine in dem Fiaker mit mir und noch der Kutscher dazu, vorne im schwarzen Hut und kariertem Hemd mit Jackett; er zeigt mit der Peitsche auf die Bauten des Kosmos: └Und hier, in dem und dem Jahr lebte der und der, er lebte auf eine gute und süße Art, er hinterließ der Welt Tonnen des Wissens.“Wiener Ring — das ist eine der Laufbahnen des Universums, auf der sich Paläste und Parks bewegen, und alles strebt zur Mitte, hin zum Dom. Rund um den zentralen, er
sten Bezirk gruppieren sich die anderen zweiundzwanzig, die fest in eine Spirale aufgezogen wurden, und wie die Feder einer Uhr drehen sie sich, bringen die Zeit in Bewegung — den Strom von wunderbaren und schrecklichen Jahrhunderten.Ja, diese Stadt hat keine Grenzen, diese Stadt, die keinen Namen trägt, genauer gesagt, eine die aus allen anderen besteht, aus allen anderen Namen der Städte, ein unendlicher Zug von Buchstaben und Silben. Wie schön, wie bezaubernd es rund um uns ist, wir graben die Wolken auseinander, wir schnappen sie, packen sie schnell in die Hosentaschen, wie Gestohlenes, aber ist es nicht der mögliche versteckte Sinn der Welt: Es zu schaffen, von allem, was rund um uns herumliegt, soviel wie möglich zu stehlen und dann — zu laufen, laufen, Hals über Kopf, weg, in die Ferne, damit sie uns dieses nicht wieder wegnehmen, laufen… Nehmt, schnappt euch die Güter der Welt, sie wird nicht ärmer dadurch, sie wird nicht knapper, nur wir könnten knapper werden, und sie, sie ist frisch wie… nein, man kann das wohl mit nichts vergleichen.
└Und links, etwas weiter, — zeigt uns der Kutscher, — dieser gelbe Koloss, es ist das Schloss Schönbrunn, mit den Scharen von Touristen aus dem ganzen Kosmos, und rechts, hinter den Bäumen, wächst das größte Museumsquartier Europas.“ Und in der Tat, das bezeugen Gruppen von Baukränen, die über den Dächern der Stadt ihr eigensinniges Gespräch unter sich führen.
Die Donau fließt und betritt unsere Gläser — man serviert uns den Gespritzten. Trinken wir doch auf etwas traurig-schönes in diesen Kulissen, ja, mehr Leichtigkeit, Damen und Herren, eine Wolke und nicht der Stein, alles rund um uns ist ein Spaziergang, eine Fahrt im Fiaker, etwas bis ins Tiefste Unseriöses, Karikaturhaftes, Leichtes, wie Musik, wie der St
rauß-Walzer, — der goldene Doppelgänger des Komponisten spielt sogar in der Nacht den Bäumen des Stadtparks lautlos auf der goldenen Geige, hört doch genauer hin… Und rund um ihn schweben im Kreise wunderbare Wesen aus weißem Marmor, wie der Engel-Kreis auf einem der Botticelli-Gemälde, und dann später — diese schreckliche nächtliche Einsamkeit im Scheinwerferlicht, wenn der letzte müde Tourist aus Asien seinen Rücken kehrt und weggeht, und mit ihm seine erschöpfte Fotokamera.Doch vorwärts, wir müssen weiter, weg vom Strauß-Denkmal, wir eilen weiter, den Ring entlang; Tramschienen begleiten uns, wie die Nerven der Stadt, die nachts im Rampenlicht funkeln, und da halten die Autos an der Ampel und bilden eine hell beleuchtete Bühne: über die weißen Zebrast
reifen schweben vom Arbeitsalltag erschöpfte nächtliche Gespenster; und nebenan kommen auf die Bühne die Schauspieler des im ganzen Universum berühmten Burgtheaters, und aus allen Galaxien eilen mit allen Kräften in den interplanetaren Fiakern Wesen in Abendkleidern und Anzügen — meine Damen, meine Herren, heute findet im Theater die Premiere eines neuen Stückes statt!Wir haben das alles, alles gesehen, wir waren ein Teil dessen: diese einsamen Wiener Nächte, die orangefarbenen Müllmänner, die die Scherben des Imperiums schläfrig aufräumen; kopflose Blumenverkäufer, die auf der Schulter ganze Bündel der Floravertreter tragen, man sieht eine Kugel aus Rosen, als bestünde des Verkäufers Kopf alleine aus Blumen; Taxen, die wie Haie in der Dunkelheit der Wiene
r Gewässer langsam umherirren; Magazin- und Zeitungsverkäufer, die nachts mit ihren Zöglingen Gasse gehen, stundenlang, die ganze Nacht durch, ein ganzes Jahrhundert, sie kleiden die Zeitungen mit Plastik ein, schützen sie vom Flug der Diamanten, denn in dieser Stadt wird sogar der normale irdische Regen zu einer Schnur aus kostbaren Steinen. Zeitschriften bedecken das Pflaster: erregte politische Überschriften, rote Gesichter der Politiker und der lokalen Sternchen. Werbetafel kriechen die Wände hoch, weiter, höher, — alles auf diesem Planeten besitzt diesen Drang zum Leben, alles möchte leben, atmen, wachsen, Flora und Fauna, du und ich, er und sie, wir, ihr, sie, — wohin, wohin, ihr Wahnsinnigen, wozu, ihr Idioten, ich verurteile euch nicht, aber sagt mir: wozu, wohin?!…Lass uns fliegen, meine Liebe, diese heutige Nacht möge kein Ende haben, wir haben es abgeschafft! Wir eilen an den riesigen UNO-Felsen vorbei, in dem hoch wachsenden neuen Viertel Wiens auf der Donauplatte – auch sie wird von der Lebenskraft gespeist, welche die Planeten und alles andere bewegt, alles! Und in der Vorgartenstraße klimmt hinauf ein Wohnhausblock mit den einsam leuchtenden Fenstern — jemand hat die neuen schneeweißen Appartements bereits bezogen und wird viele Jahre in die
sen Wänden verbringen, wird älter und verschwindet dann eines Tages, und weißt du, stell dir mal vor, all diese Leute in diesen Häusern, die an den Tischen sitzen, schlafen, schreiben, zu Abend essen, sie alle, aber ohne Architektur und anderem Inventar, als ob sie in der Luft schweben würden, ohne Seile, ein Wunder. └Na und? Was willst du mit dem?“ — fragt die Umgebung. Einfach so, nur ein Bild…Dort in der Nähe hat ein Bagger seinen Löffel in die Erde gesetzt, als hätte er seinen kantigen Giraffenhals in einer Art Verbeugung herunter gesenkt, zu den Füßen der dort wachsenden Birke, und nun gesteht er ihr etwas — tut er Buße für sein Verhalten?… Was tut er? Wozu? Weil er ihre Ruhe durch seine Grabungen gestört hat? Oder fordert er sie auf die Weise zum T
anzen auf? Und schon kreisen sie in einem Walzer. All, all diese Gegend erinnert an die riesigen unbebauten Räume Berlins; hier, so scheint es, hört die Stadt auf, die Welt, der Raum, die Zeit, hier verschwinden, fallen herunter die Karavellen mittelalterlicher Seefahrer, und der hiesige Holden Caulfield rennt hin und her am Rande der Schlucht. Und die Kulissen dazu: der Sonnenuntergang hinter dem Kahlenberg mit den brutal zerrissenen Wolken. Wer schafft es, ihr Kleid wieder zu vernähen?Aus der Höhe sehen wir Bratislava, sie ist ganz nah heran gekrochen, bis an die Grenze, und flüstert dem Nachbar etwas zu, es sind nur noch lächerliche 50 Kilometer bis nach Wien, und es hat was Intimes, diese Nähe, und in der Ferne, auch an die Schnur der Donau angeglieder
t, sieht man schon Budapest, denn auch die anderen Länder sehnen sich nach Wien, der Balkan und Osteuropa — einst Mitbewohner in der österreichisch-ungarischen Wohngemeinschaft, später — unheimlich rauschende Nachbarn hinter der Wand; nun öffnen sich alle Türen wieder, — die Präsenz des übrigen Europas sehen wir auf den Straßen des Wiener Organismus. Aber jetzt ist es Nacht, und die Stadt, so scheint es, ist von den Menschen müde geworden.Aber morgen — morgen wird alles wieder lebendig, wird singen und zwitschern, und der Staatsbürger Österreichs wird wieder ahnungslos um die Ecke gehen, um Frühstücksbrötchen zu holen, und wird den frischen Kohlkopf der Zeitung └Standard“ auseinanderfalten, und der in die Enge getriebene Bundeskanzler wird in der Hauptspalte wieder zur Sprache bringen: └Wir waren keine Wunschkinder“.
Heute Nacht sehe ich alles, heute bin ich ganz Auge, wischen wir doch die Tränen weg, alles ist so dumm und schön gleichzeitig, — ich weiß nicht, wohin mit all den Schätzen der Natur, des Schicksals. Du sagst: “Vorsicht vor den Dieben, damit sie deine Schätze nicht stehlen!“ Aber wir werden uns neue schnappen. Falls wir dazu noch Zeit bekommen. Fliege doch, du Fiaker, durch diese legendären Straßen, die so vielen Generationen von Menschen so vi
el bedeutet haben, fliege über dem römischen Legionslager Vindobona, über den die Stadtmauern belagernden Türken (wir überholen just die Kanonenkugel), durch den Rauch, durch die Jahrhunderte, am Metternich vorbei, am Karl VI., an Maria Theresia, durch die Bomben des letzten rauen Krieges, vorbei an den Massen aufgeregter Demonstranten vor der Bundeskanzler-Residenz, vorbei an den Menschenmassen, die jeden Donnerstag auf die Straßen heraus kriechen und den Sternen irgendwas in die Luft schreien, die mit zufälligen Passanten und Einwohnern in den geöffneten Fenstern streiten, Menschenmassen, die trommeln und pfeifen (den unschuldigen Fassaden entgegen), und die diese Steine aus dem langen und süßen Schlafe erwecken. Und wenn die Letzteren erwacht sind, werden sie eine Parole zu lesen bekommen: └Wir werden so lange gehen, bis ihr geht.“Fliege doch weiter, in beliebige Richtung, rückwärts, im Kreise, aber fliege! Heute Nacht akzeptiere ich die Welt so, wie sie ist. Der Kutscher wird im Trinkgeld versinken, die Zigeuner werden uns noch eine Zeit lang spielen! Das ist keine russische Gogolsche Troika, das ist ein Wiener, ein europäischer Fiaker. Aber an die Seite zu treten und auch ihm den Weg freimachen – das sollte man trotzdem.
Wien 2000 / Berlin 2001