(Randbemerkungen zu der Neuübersetzung von „Moskva-Petuški“ durch P. Urban
Опубликовано в журнале Студия, номер 12, 2008
Die „tragischen Blätter“[1] von Venedikt Erofeev erlitten, seit sie zum ersten Mal die sowjetische Staatsgrenze überschritten und gleich an größter Popularität unter der russischsprachigen Leserschaft im Westen gewonnen hatten, immer wieder in vielen Übersetzungen ein im wahrsten Sinne des Wortes „tragisches“ Schicksal. Mancher russische oder auch westliche Kritiker sah in dem Poem „исповедьроссийскогоалкоголика“[2] oder eine „Wodka-Odyssee des betrunkenen Wenitschka“[3] oder „the drunken journey of one man on the Moskovskaia-Gor’kovskaia train line to visit his lover and child“[4], „die absurde Schilderung einer Sauftour“[5] oder, wie auf dem Schutzumschlag der ersten deutschen Übersetzung stand, eine „feuchtfröhliche Zugfahrt“. Allein schon der Titel des ins Französische übersetzten Poems „Moscou-sur-Vodka“ spricht für sich – hier geht es um eine Sauftour à la russe. Diese unglücklichen Interpretationen waren zweifelsohne vor allem auf die intertextuelle Inkompetenz und fehlende Kenntnis der soziokulturellen Einbettungen des Erofeev’schen Textes zurückzuführen. Somit galten bis jetzt diese Übersetzungen als ein Beispiel für die wegen falscher Interpretationen fehlgeschlagene kommunikative Funktion des Originaltextes per se.
Nun hätte man spätestens seit der Veröffentlichung von Eduard Vlasovs mehr als ausführlichen Kommentaren im Jahre 1998 hoffen können, dass dieser Missstand damit zu beheben wäre. Zumal diese Kommentare den Originaltext von knapp 120 – 150 Seiten je nach Ausgabe fast um das Vierfache (450 Seiten) übersteigen und jede als vom Autor intertextuell angelegte oder die nur als solche möglicherweise zu interpretierende Stelle minutiös und in extenso exemplifizieren. Darüber hinaus behandeln die Kommentare in ausführlicher Form fast alle im Originaltext anzutreffenden Jargonismen, soziokulturelle Bindungen sowie zeitgenössische Anekdoten und Formulierungen des sowjetischen Alltags. Und obwohl die Kommentare schon seit 1998 zugänglich sind und mehrfach nachkommentiert, kritisiert sowie gelobt wurden, hat bis vor kurzem kein Übersetzer die Möglichkeit genutzt, dem Autor und seinem Werk Gerechtigkeit zu tun und die fremdsprachige Leserschaft an dem Chef-d’Œuvre teilhaben zu lassen.
Seit September 2005 liegt uns eine Neuübersetzung von „Moskva-Petuški“ von Peter Urban in einer Ausgabe mit einem graphisch prächtigen Coverdesign vor. Den meisten Rezensionen und Artikeln anlässlich der Neuerscheinung können wir entnehmen, dass die Neuübersetzung ein unumstrittener Erfolg ist und, dass sie das Buch auf die entsprechende Wahrnehmungsebene hochhebt, was bis jetzt aufgrund der alten Übersetzung nicht möglich war. Auch der Übersetzer selbst betont ausdrücklich in seinem Nachwort, dass Erofeevs Text bis jetzt nur „an der Oberfläche wahrgenommen“[6] wurde und dies vor allem auf die erste Übersetzung zurückzuführen sei: „Für den deutschen Leser begann das Mißverständnis bereits mit der törichten Verbiegung des originalen Titels: Was bei Erofeev eine lakonische, sachlich-knappe Fahrplanauskunft ist, mißriet mit der Reise nach Petuschki ins Gemütvoll-Blumige, in die Nähe der Idylle (und lud nachgerade zur falschen Betonung »Petúschki« ein, im Unterschied zum harten: Moskvá – Petuškí).“[7] Das mag ja zum Teil richtig sein, doch eins dürfen wir nicht vergessen, dass die erste deutsche Übersetzung von N. Spitz bereits im Jahr 1978 erschienen war, wo weder Kommentare noch irgendwelche wissenschaftlichen bzw. kritischen Abhandlungen zu Erofeev vorhanden waren. Und wo wir der alten Übersetzung aus dem oben erwähnten Grund einiges nachsehen können, dürften wir von der neueren Übersetzung unter Berücksichtigung in erster Linie der Kommentare von E. Vlasov etwas mehr verlangen. In unserem Artikel möchten wir einen etwas gründlicheren Blick auf die Neuübersetzung werfen und prüfen, ob sie tatsächlich den Rezensionen und dem eigenen Nachwort gerecht wird und uns, den Lesern, Erofeev endlich näher bringt. Wir werden versuchen, chronologisch vorzugehen mit Ausnahme der Stellen, auf die im späteren Verlauf rekurriert wird bzw. die, die bestimmte Parallelitäten aufweisen – solche Stellen werden alle gleich hintereinander aufgeführt und behandelt.
Gleich zu Anfang wird dem Leser eine Weinliste des von Venja, dem Helden des Poems, Eingenommenen präsentiert, worunter auch zwei Gläser, wohlbemerkt russische Gläser mit einem Volumen von 200 ml, Jägerschnaps ihren Platz finden. In der deutschen Fassung steht aber dafür „Jägerlatein“, was den deutschen Rezipienten schon etwas aus der Lesebahn wirft. Erstens, ist Jägerlatein als ein alkoholisches Getränk im deutschen Sprachraum nicht bekannt, was dazu führt, dass beim Leser der Eindruck eines exotischen russischen Wodkanamens erzeugt wird. Zweitens, trägt dieser Jägerschnaps keine intertextualtitätsträchtige Bedeutung, um den Leser zwingen zu müssen im Anmerkungsapparat nachzuschlagen. Und drittens, wenn man schon eine Anmerkung macht, dann müsste diese gründlich nachrecherchiert werden und dann auch stimmen. In der Anmerkung schreibt P. Urban „Jägerlatein – russ. ochotničeskaja, 40%iger Vodka…“[8], was dem deutschen Rezipienten sowieso nicht viel sagen wird, doch gerechtigkeitshalber muss gesagt werden, dass diese Wodkasorte ausschließlich den Namen „Охотничья“ (translit. ochotnič’â) trägt und einen Alkoholgehalt von min. 45% besitzt.
Drei Absätze weiter verlässt der Protagonist Venja noch von der gestrigen Kostprobe ziemlich angeschlagen am frühen Morgen ein fremdes Treppenhaus, in dem er letzte Nacht besinnungslos gelandet war. Zitternd vor Kälte und Kummer versucht er mit sich selbst und mit dieser unfreundlichen Welt Frieden zu schließen: „Ничего, ничего, – сказалясамсебе, – ничего. Вон – аптека, видишь? А вон – этот пидор в коричневой куртке скребет тротуар. Это ты тоже видишь. Ну вот и успокойся. Все идет как следует.“[9] In der Neuübersetzung von P. Urban lautet die Passage folgendermaßen: „– Schon gut, schon gut – sagte ich zu mir – schon gut. Da – die Apotheke, siehst du sie? Und der Schwule in dem braunen Jackett, der das Trottoir fegt. Den siehst du ebenfalls. Also beruhige dich. Alles geht, wie es sich gehört.“[10] Die deutsche Variante dieser Passage könnte den Leser möglicherweise etwas stutzig machen, denn warum, würde der Leser gern wissen, der Anblick eines Schwulen auf einen Verkaterten beruhigend wirken soll. Zu Recht, würde der Leser den Autor einer emotionalen Beziehung zu den Vertretern der Homoerotik, ob der Ab- oder Zuneigung sei es dahingestellt, verdächtigen. Bestenfalls wird der Leser diese Passage der angeblich intentionalen Absurdität des Poems, welche die vorliegende Übersetzung anscheinend vehement vertritt, zuschreiben. Diese Vermutungen der Leserschaft werden umso mehr bekräftigt, als man auf der Seite 36 schon wieder einen „Schwulen“ in einer negativen Konstellation antrifft. Nach seinem beruflichen Misserfolg als Brigadier verflucht der Protagonist Streber und Erfolgreiche, die die Leiter des gesellschaftlichen Aufstiegs emporsteigen: „Чтобпонейподыматься, надобытьжидовскоюмордоюбезстрахаиупрека, надобытьпидорасом, выкованнымизчистойсталисголовыдопят. А я – не такой.“[11]Bei P. Urban liest sich diese Passage als: „Um auf ihr aufzusteigen, muss man Schwuler sein, muss man von Kopf bis Fuß aus reinem Stahl geschmiedet sein. So einer bin ich nicht.“[12] Geradezu verwunderlich ist auch die Tatsache, dass der Übersetzer, sonst die Kommentare von E. Vlasov immer beherzigend, sie in den beiden Fällen außer Acht lässt. „Пидор – груб., разг., педераст; здесь использовано исключительно как ругательство; …“[13]. („Pidor – derb, umg., Homosexueller; hier ausschließlich als Schimpfwort benutzt; …“ Ü.d.V.) Dazu möchten wir uns noch kurz eine zum Kulturgut sowjetischer Geschichte gehörende Anekdote in Erinnerung rufen. Im Jahre 1962 besuchte Nikita Chruschtschow in der Moskauer Manege die Ausstellung zum 30. Jahrestag der Moskauer Abteilung des Künstlerverbands, wo unter anderem Künstler der Avantgarde und des Abstraktionismus ihre Werke ausgestellt hatten. Als der Generalsekretär der Kommunistischen Partei diese gesehen hat, flippte er völlig aus und beschimpfte diese Künstler wegen einer offensichtlichen Abweichung vom Sozialistischen Realismus lauthals als „пидарасы“ (pidarasy) – eine weitere Abwandlung vom „педераст“. Damit wollte der Parteichef keinesfalls ihre sexuelle Orientierung unterstreichen, sondern sie in einer derben und unflätigen Weise in der Öffentlichkeit heruntermachen. Aufgrund fehlender Äquivalenz in der Nonstandardlexik liegt das russische Schimpfwort ,пидор‘ am nächsten zum deutschen ,Arschloch‘, das die Intensität und Vulgarität der Beschimpfung am ehesten trifft. Darüber hinaus wird mit dem Bild eines die Straße fegenden Schwulen die soziokulturelle Einbettung sowjetischer Realien verletzt, da Homosexualität zur Sowjetzeit als gesetzwidrig galt und mit Freiheitsentzug bestraft wurde, so dass man damals einen Homosexuellen als solchen auf der Straße nie und nimmer hätte erkennen können.
Die nachfolgenden zwei kurzen Passagen im Kapitel „Moskau – Hammer und Sichel“ sind ein markantes Beispiel für eine die Intention des Autors verfälschende und vulgarisierende Verflachung des Originalkontextes in der Übersetzung. Wir haben schon einmal oben darauf hingewiesen, dass der Protagonist sehr feinfühlig und sensibel ist und so ist auch seine Sprache, wenn auch mit der Lexik des Nonstandards hin und wieder untermalt. Dabei hat diese gelegentliche Verwendung des Nonstandards einen bestimmten Zweck zu erfüllen, und zwar sorgt sie für eine krasse Gegenüberstellung von erhabenen und herabsetzenden Elementen nach Bachtin und erzeugt gleichzeitig eine ästhetische und semantische Differenz innerhalb des Textes, von der R. Lachmann in ihrer Arbeit „Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne.“ unter anderem in Bezug auf intertextuelle Einschübe im zielsprachigen Text spricht. Und so ist es kein Zufall, dass Erofeev die Wendung „Доветрутынеходишь…“[14] für die Beschreibung gegebener Umstände im russischen Original verwendet. Dieser Euphemismus bezweckt gerade durch seinen etwas archaischen und volkstümlichen Charakter eine ironisierende Wirkung und erzeugt praktisch zwangsläufig eine „kontextuelle Explosion“ auf der ästhetisch-semantischen Ebene. In der Übersetzung jedoch fehlt dieser Effekt gänzlich, denn durch die Übertragung der Originalwendung als „Du gehst nicht aufs Scheißhaus…“[15] erfährt der Text durch eine weitere nicht vom Autor beabsichtigte Derbheit und Vulgarisierung sowie fehlende euphemistische Färbung der Passage eine eindeutige Verflachung. Wir haben mit Absicht auf den Vergleich der Neuübersetzung von P. Urban mit der ersten von N. Spitz verzichtet, denn dies würde den Rahmen unserer Arbeit sprengen. Dennoch werden wir hin und wieder die entsprechenden Passagen aus der alten Übersetzung anführen, um die Neuentdeckung des Rades zu vermeiden. Die alte Übersetzung bietet uns für die oben besprochene Passage folgende Variante: „Hinter den Busch gehst du nicht…“[16]. Unbestritten erfüllt dieser euphemistische Wendung im Deutschen die Funktionalität ihres russischen Analoges in jeder Hinsicht weitaus besser und trägt somit zum Verständnis des sinnkonstituierenden stilistischen Spiels des Originals bei. Im selben Kapitel zwei Seiten weiter beklagt sich Venja über sein Feingefühl und seine Keuschheit, die ihn eigentlich unglücklich machen und völlig verkehrt von seinen Mitmenschen ausgelegt werden. Und so wird er zu den Damen gebracht und ihnen mit folgenden Worten vorgestellt: „Er ist für vieles berühmt. Aber am berühmtesten ist er natürlich dafür, dass er in seinem ganzen Leben noch kein einziges Mal gefurzt hat.“[17] Doch die Handlung bzw. deren Unterlassung für die Venja so berühmt ist und die in der deutschen Version mit einem durch und durch derben Verb wiedergegeben wird, ist mit einem Verb beschrieben, das der Kindersprache bzw. einem verharmlosenden Sprachgebrauch der herabsetzenden Elemente angehört – „…завсюсвоюжизньниразунепукнул…“[18]. Somit verhält es sich auch hier in Bezug auf Funktionalität und Nicht-Erfüllung der Autorintention, wie oben besprochen in gleichem Maße.
Ein weiteres Beispiel der fahrlässigen Behandlung des Poems ist im nächsten Kapitel zu finden. Die Variation einer Rekurrenz, die sich kontextbedingt am Anfang und Ende des Poems fast wörtlich wiederholt, erscheint in dieser Passage den Umständen entsprechen in einer abgewandelten Form. Doch die Übersetzung gibt sie, sei es aus Versehen oder Fahrlässigkeit, ohne diese Abwandlung wieder. ImOriginallautetdiesePhraseandieserStelle: „О, блаженнейшее время в жизни моего народа – время от открытия и до закрытия магазинов!“[19]. („O glückseligste Zeit im Leben meines Volkes – o Zeit zwischen Öffnung und Schließung der Geschäfte!“[20]). In der Neuübersetzung liest sich diese Passage jedoch folgendermaßen: „O schlimmste Zeit im Leben meines Volkes – Zeit zwischen Öffnung und Schließung der Geschäfte!“. Und das ergibt nun so gut wie keinen Sinn, denn die beiden Rekurrenzen am Anfang und Ende des Poems sprechen tatsächlich von der „schlimmsten Zeit“, jedoch einmal von der Zeit „vom Morgengrauen bis zum Öffnen der Geschäfte“[21] und ein anderes mal von der „Schließungszeit der Geschäfte bis zum Morgen!“[22], mit anderen Worten die „schlimmste Zeit“ ist die Zwischenzeit, in der alle Geschäfte zu sind. Doch unsere Passage sollte als ein Lobgesang an die „Zeit zwischen Öffnung und Schließung der Geschäfte“ gelten, daher auch der Superlativ „блаженнейшеевремя“ („glückseligste Zeit“). Und somit muss die vorliegende Version in der Neuübersetzung vom fremdsprachigen Rezipienten abermals entweder als Absurdität oder als Inkonsequenz und Fahrlässigkeit des Autors hingenommen werden.
Da wir gerade von der durch die inakkurate Übersetzung hervorgerufenen Absurdität bzw. Verworrenheit sprechen, bietet sich für unsere Untersuchung das nächste Beispiel noch im selben Kapitel ein paar Absätze weiter an. Venja, immer noch als Brigadeführer, begreift sich plötzlich als Vormund und Fürsorger seiner Untergebenen und sagt zu sich selbst: „…вспомни, тычиталукакого-томудреца, чтоГосподьБогзаботитсятолькоосудьбепринцев, предоставляяосудьбенародовзаботитьсяпринцам.“[23] Die Übersetzung schlägt folgendes vor: „…erinnere dich, du hast bei einem Weisen gelesen, dass der Herr unser Gott sich nur um Prinzen sorgt, denen er die Sorge um das Schicksal überlässt.“[24] Im Original aber sorgt Gott der Herr sich nicht um Prinzen, sondern um das Schicksal der Prinzen und die ihrerseits um das Schicksal der Völker. Die Folgerichtigkeit in diesem Abschnitt ist umso wichtiger, als es eine implizite Allusion auf eine Bibelszene aus dem Buch Exodus (Ex 18:18-21, 23) darstellt. Und umso mehr ist es verwunderlich, dass der Übersetzer diese Passage nicht richtig wiedergibt, als man diesen Allusionshinweis auch bei Vlasov vorfindet, dessen Kommentare man, wenn auch in etwas gekürzter Form, zum größten Teil im Anmerkungsapparat der Neuübersetzung wieder findet. Diese Modifizierungen und Auslassungen sind nicht nachvollziehbar, zumal die „Sorge um das Schicksal“ einen aufmerksamen Leser zwangsläufig zu der Frage verleitet, was für ein oder wessen Schicksal gemeint ist? Die im Original ganz klare und sinnkonstituierende Aussage muss in der Übersetzung schon wieder als eine Verwirrung stiftende Sinnlosigkeit oder eine abermalige Kapriole des Autors gelesen werden.
Im Kapitel „Reutovo – Nikolskoe“ wird der fremdsprachige Leser schon wieder mit einem sonderbaren Wodkanamen „Drachentöter“[25] konfrontiert. Der Name Drachentöter kann eventuell vollkommen falsche Konnotationen bei den Spirituosenkennern bzw. bei solchen, denen um ihren Wissensdrang zu stillen ein Blick ins Internet nicht allzu schwer fällt, hervorrufen, denn Drachentöter heißt ein Cocktail, dessen Bestandteile sind: 2 cl Fernet Branca, 2 cl Vermouth Rosso, 2 cl Pfefferminzlikör, 2 Eiswürfel (nach Belieben), 1 Zitronenscheibe. Wir brauchen es nicht weiter auszuführen, dass dieses Getränk für sowjetische Verhältnisse der 70-er Jahre so gut wie unmöglich erscheint. Dabei handelt es sich bei Erofeev um eine wohlbekannte Wodkasorte, die den Namen „Зверобой“ trägt, was wahrscheinlich für das Missverständnis gesorgt hat. Zwar wird bei Ožegov oder Ušakov die erste Bedeutung des Wortes ,зверобой‘ als ein veralteter Ausdruck für Jäger erklärt, doch wurde dieser Wodka auf diesen Namen aus einem anderen und viel einfacheren Grund getauft. Die zweite Bedeutung von ,зверобой‘ ist Johanniskraut, die den wichtigsten Bestandteil dieser Wodkasorte darstellt. Somit verfehlt der exotische Name Drachentöter die Grundbedeutung des Originals samt der werkimmanenten Konnotation.
Ein paar Seiten weiter erinnert sich Venja wie er beim letzten Besuch am Bettchen seines kranken Sohnes saß und ihm einredete schnell zu genesen und bald aufzustehen, um zu Vaters Farandole zu tanzen, wie er schon früher mal dazu getanzt hatte. „… erinnerst du dich? Als du zwei warst, hast du zu ihr getanzt. Die Musik war von deinem Vater, die Worte desgleichen. … Und du, auf den einen Arm gestützt, hast mit dem anderen das Tuch geschwenkt und bist gehüpft wie ein Winzling von Ferkel …“[26]. Am besten ist gar nicht daran denken, was gemeint ist. Sobald wir versuchen uns dieses Bild vor Augen zu führen, bricht jede Logik und alles dem menschlichen Körper Zumutbare zusammen. Das ist eine Akrobatik hoch drei, die nicht in jedem chinesischen Zirkus nachgemacht werden kann. Und das Wichtigste nicht zu vergessen: diese haarsträubende Turnübung wird von einem zwei Jahre alten Kind vorgeführt. Ist das denn überhaupt möglich oder versucht der Autor schon wieder seine Leserschaft wie eine Rakete ins Absurde bzw. feiner ausgedrückt ins Groteske zu schießen? Aber was hat dieses Groteske, und zwar an dieser Stelle, im Werk zu suchen? Eigentlich nichts. Davon können wir uns leicht überzeugen, wenn wir den Originaltext zu Rate ziehen. Dortstehtnämlich: „А ты, подпершись одной рукой, а другой платочком размахивая, прыгал, как крошечный дурак…“[27]. Das ganze Missverständnis mit der Akrobatik rührt von der Wendung „подпершисьоднойрукой“ her. Das Verb ,подпереть‘ wird in vielen russisch-deutschen Wörterbüchern als (ab-, unter)stützen wiedergegeben. Dabei ist dies nicht die einzige Bedeutung, und vor allem in diesem Zusammenhang sollte man sich fragen, ob dahinter noch etwas anderes steht. Schon bei Ušakov finden wir an letzter Stelle als eine weitere mögliche Bedeutung den Eintrag „Подпереться руками (разг.). – опереть руки на бока.“ (Hände in die Seiten (umg.) – Hände in die Seiten stemmen. Ü.d.V.). Und gleich wird alles klar und verständlich, was ursprünglich gemeint war. Beim Leser sollte das Bild eines russischen Folkloretanzes entstehen, bei dem Frauen in Folklorekleidern mit einer Hand auf der Hüfte und mit der anderen ein Tuch schwenkend einen russischen Reigen tanzen.
Im Kapitel „Kupavna – Kilometer 33“ diskutiert unser Held über verschiedene alkoholische Getränke und deren Wirkung auf die menschliche Natur. Dabei stellt er eine These auf, die besagt, dass der Mensch nach einem kontinuierlichen Einnehmen von rotem Dessertwein mit erhöhtem Alkohol- und Zuckergehalt während eines ganzen Tages zu nichts imstande ist und seine Mitmenschen, insbesondere Mädchen, ihn hartherzig übersehen.
„А если вы с утра до ночи пили только крепленые красные вина? Да девушки через вас и прыгать не станут в ночь на Ивана Купалу. Даже наоборот: сядет девушка в ночь на Ивана Купалу, а вы через нее и перепрыгнуть не сумеете, не то что другое чего.“[28]
Die Neuübersetzung bietet uns wieder mal eine eigene Interpretation nebst einer weiteren ungerechtfertigten Auslassung: „Und wenn ihr von morgens bis in die Nacht nur Rotweinverschnitt getrunken habt? Werden die Mädchen nicht in die Nacht von Ivan Kupala hineinspringen. Geschweige denn etwas anders.“[29] Die Anmerkung des Übersetzers über die Analogie der Nacht von Ivan Kupala (volkstümliche Bezeichnung für Johannis der Täufer) zur Walpurgisnacht ist die einzige richtige. Denn die zielsprachige Passage weist weder einen Zusammenhang noch irgendeine Logik auf. Die erste Frage, die sich dem fremdsprachigen Rezipienten gleich von vorne aufdrängt, ist, was hat der Alkoholverzehr eines Dritten für verheerende Wirkungen auf die Sprungkraft der Mädchen. Und zweitens, was ist das für ein mysteriöser russischer Brauch, bei dem Mädchen in die Nacht hineinspringen sollen. Fangen wir zuerst mit dem geheimnisvollen Hineinspringen an. Das Geheimnis lüftet sich viel schneller als man es erwarten könnte, sobald man bei Ožegov den Eintrag ,ночь‘ nachschlägt. Dort finden wir ein Beispiel für die Wendung ,вночь‘, die gleich mit dem erklärenden Synonym in Klammern ,ночью‘ erläutert wird, was zu Deutsch schlicht und ergreifend „in der Nacht“ bedeutet. Und was die erste Frage betrifft, so entstand diese aus der im Original nie da gewesenen Zusammenhanglosigkeit. Außerdem wird in der deutschen Variante aus unerklärlichen Gründen gleich nach dem Hineinspringen ein ganzer Satz weggelassen. An dieser Stelle möchten wir der Vollständigkeit und Verständlichkeit halber, ohne dabei eine vergleichende bzw. bewertende Analyse der beiden Übersetzungen zu betreiben, diese Passage aus der alten Übersetzung anführen: „Und was passiert, wenn ihr morgens bis abends ausschließlich schwere Rotweine trinkt? Die Mädchen werden in der Johannisnacht nicht daran denken, über euch drüberzuspringen. Sogar umgekehrt: würdet ihr in der Johannisnacht den Versuch machen, über ein Mädchen drüberzuspringen, würdet ihr das garantiert nicht schaffen, geschweige denn was anderes.“[30]
Jetzt stoßen wir im Verlauf der nächsten zehn Seiten auf verschiedene Russizismen und Lehnübersetzung in der Art einer philologischen Übersetzung, die eine aber im Original nicht vorhandene „exotisierende“ Erzählform suggerieren, was den Lesefluss lediglich negativ beeinträchtigt und den an sich sehr poetischen Text holprig macht. Auf einige dieser Elemente möchten wir hier kurz eingehen.
Für die Erforschung des Unerforschlichen unter seinem mathematischen Aspekt, des Schluckaufs im Suff, muss man ihn erst mal auslösen. Und dazu verrät der Autor ein sicheres Rezept, das einen hundertprozentigen Erfolg garantiert. „Und ihr werdet euch überzeugen: gegen Ausgang dieser Stunde beginnt er.“[31] Was im ausgangsprachlichen Text als eine standardsprachliche und sogar phraseologische Wendung „кисходуэтогочаса“ gilt, muss nicht automatisch für das Ohr eines fremdsprachigen Rezipienten in einer wort-wörtlichen Wiedergabe dieser Wendung genauso wohlklingend und stilistisch korrekt sein. Ein angemesseneres Äquivalent dafür, welches seine Leser darüber nicht würde stolpern lassen, wäre hierzulande das übliche „nach Ablauf dieser Stunde“.
Bei der Preisgabe seiner berühmten Cocktailrezepte warnt uns der Held vor den Folgen des Wodkatrinkens in seiner reinen Form, d. h. ohne zu mischen: „Wer einfach Vodka trinkt, bewahrt gesunden Menschenverstand und festes Gedächtnis oder verliert, umgekehrt, das eine wie das andere.“[32] Einmal haben wir es hier mit einer der seltenen aber glücklichen intersprachlichen Kongruenzen auf der phraseologischen Ebene zu tun, denn der Menschenverstand ist im Russischen genauso ,gesund‘ wie im Deutschen. Dieser Fall ist aber kein Grund dafür, die zweite feststehende Redewendung ,твердаяпамять‘ in eine im Deutschen nicht existente Fügung ,festes Gedächtnis‘ hineinzuzwingen, was beim deutschsprachigen Leser, der noch ein gutes Gedächtnis hat, unnötige Verwirrung und womöglich falsche Assoziationen hervorrufen kann.
Als Venja, zurück in seinem Abteil, die beiden sonderbaren Figuren, den Großvater und seinen Enkelsohn, zu sich ruft, fragt er zunächst nach dem Namen des Großvaters. „Wie heißt du, Papaša, und wo fährst du hin?“[33] Welchen intertextuellen bzw. alludierenden Sinn trägt dieses Wort, das es extra einer Transliteration und dann noch einer Anmerkung bedarf? Im Original ist es eine alltägliche, umgangssprachliche und sehr gängige Bezeichnung für ältere Herren, wie im Deutschen etwa Opa, alter Mann, notfalls Väterchen. Warum müssen also die Leser wegen einem für die Sinnkonstituierung so unwichtigen Wort aus der Lesebahn geworfen werden und den Anmerkungsapparat danach durchsuchen.
Die Passage über Mitrič, den Enkelsohn, der auf Grund seiner anatomischen Beschaffenheit sowie eines skurrilen und grotesken Verhaltens der materiell-leiblichen Basis angehört, ist als eine karnevaleske Gestaltung im Bachtinschen Sinne zu begreifen. Auch die Laute, die er von sich gibt, sind einer sonderbaren Natur. „Необычен был этот звук, и чертовски обидно, что я не могу его как следует передать.“[34] In der Übersetzung liest man: „Ungewöhnlich war dieser Laut, und es ist verteufelt gemein, dass ich ihn nicht wiedergeben kann, wie ich sollte.“[35] Zugegeben, die ganze Passage ist ein Füllhorn des Grotesken und Skurrilen, dennoch bleibt die Sprache des Autors poetisch. Zweifellos versteht man, wofür dieses „verteufelt gemein“ steht, doch klingt es in der Zielsprache allenfalls verfremdend. Also, warum nicht auch hier in der Zielsprache eine dem deutschen Usus entsprechende Redewendung verwenden. „Es ist verdammt schade, dass ich ihn nicht richtig wiedergeben kann.“[36]
Im Kapitel „Esino – Frjazevo“, als sich aus den Mitreisenden langsam eine intellektuelle Diskussionsrunde bildet, die ihr Erkenntnisvermögen im direkten Verhältnis zu der eingenommenen Menge immer weiter steigert, hält der Schnurrbärtige einen Vortrag über die Korrelation zwischen den Vertretern klassischer Literatur, Musik und dem Alkohol in seinen verschiedenen Erscheinungsformen. „А Куприн и Максим Горький – так те вообще не просыпались!..“[37] In der deutschen Variante heißt diese Feststellung des Vortraghaltenden folgendes: „Aber Kuprin und Gorkij – die sind überhaupt nicht aufgewacht! …“[38] Das russische Verb ,просыпаться‘ hat neben seiner ersten wörtlichen Bedeutung ,aufwachen‘ auch noch eine zweite, und zwar in einer feststehenden Fügung ,непросыпаться отпьянства‘, die nichts mit dem Schlafen und Aufwachen direkt zu tun hat. Die obwohl sehr bildhafte und trotzdem übertragene Bedeutung dieser Redewendung ist, dass man vom ständigen Trinken zu sich bzw. zu den Sinnen überhaupt nicht mehr kommt. Da das deutsche Verb ,aufwachen‘ diese Konnotation nicht besitzt, führt die direkte Wiedergabe des russischen Verbs in diesem Kontext unweigerlich zu einer Sinnentstellung. Genauso verhält es sich zwei Seiten weiter mit dem Fazit des Schnurrbarts. „А теперь – вся мыслящая Россия, тоскуя о мужике, пьет не просыпаясь!“[39] oder in der neueren deutschen Version- – „Jetzt dagegen trinkt das ganze denkende Russland, aus Mitleid mit den Bauern, trinkt, ohne aufzuwachen!“
Als ein vom Schnurrbart so glänzend aufgebautes Evaluierungssystem der trinkenden bedeutenden und nicht trinkenden nichtsnutzigen Persönlichkeiten einzustürzen droht, weil einer der Disputanten aus der Diskussionsrunde den Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe als einen unbestrittenen Klassiker und dennoch Abstinenzler entgegenhält, eilt Venja mit seiner Theorie über Goethes Abstinenz dem Schnurrbart zu Hilfe. „Вот так же он и пил, как стрелялся, ваш тайный советник. Мефистофель выпьет – а ему хорошо, старому псу. Фауст добавит – а он, старый хрен, уже лыка не вяжет.“[40] Dazu die deutsche Variante: „Und genauso, wie er sich erschossen hat, hat er auch getrunken, euer Geheimrat. Mephistopheles trinkt – und ihm ist wohl dabei, dem alten Hund. Faust schenkt ihm nach – und er, der alte Knopf, zeigt nicht einmal dabei die Zähne.“[41] In dieser Passage geht es uns vor allem um den letzten Satz, der sowohl sinngemäß als auch metaphorisch inkorrekt ist. Venjas Theorie besagt, dass obwohl Goethe ein Abstinenzler war, hat er seine Trunksucht stark sublimiert, indem er seine Hauptfiguren ständig trinken ließ und dabei selbst einen Rausch kriegte, ohne in Wirklichkeit einen einzigen Tropfen getrunken zu haben. Und das steht auch im letzten Satz unserer Passage im Original. Aus dem deutschen Satz geht hervor, dass Faust dem Mephistopheles nachschenkt und dieser dabei nicht einmal die Zähne zeigt, was laut Duden als umgangssprachliche Redewendung für [jmdm. gegenüber] Stärke demonstrieren, [jmdm.] seine Entschlossenheit zeigen zu handeln, sich durchzusetzen klassifiziert wird. Der Sinn der ersten Phrase aus dem Originalsatz „Фаустдобавит“ lässt sich praktisch anhand der wörtlichen Bedeutung des Verbs ,добавить‘ (hinzufügen, hinzusetzen; ergänzen) ableiten und suggeriert nämlich, dass Faust noch einen trinkt. Was die idiomatische Wendung ,лыканевяжет‘ betrifft, so hat sie nicht im entferntesten irgendeine Relation zum Zähnezeigen. Dieses Idiom hat sich historisch herauskristallisiert und hatte anfangs keine übertragene Bedeutung bei der Bezeichnung des gegebenen Umstands. ,Вязатьлыко‘ heißt soviel wie Bast flechten und diese Redewendung wurde auf Bauern, die für sich selbst und ihre ganzen Familien Bastschuhe flochten, angewandt als eine Messskala der Betrunkenheit, wenn die Bauer nicht mal mehr Bast flechten konnten, was an sich als eine der einfachsten alltäglichen Arbeiten galt. Heutzutage genießt diese Redewendung, obwohl etwas archaisch klingend, wie seit je große Popularität, jedoch mit der kleinen Abwandlung, dass sie nicht die stockbetrunkenen bastschuhflechtenden Bauern, die nach einer gewissen Menge ihre Fingerfertigkeit verlieren, bezeichnet, sondern all diejenigen, die, wohl gemerkt aus demselben Grund, ihre Zungenfertigkeit verlieren und kein einziges Wort mehr auszusprechen vermögen und demnach nur noch lallen können. Und darin lag die Pointe in dem Originalsatz, dass Faust noch einen ,kippt‘ und er, Goethe, nur noch lallen kann. In der Übersetzung ist der ursprüngliche Sinn dieser Aussage völlig untergegangen und der originelle Kausalzusammenhang hat überall Risse bekommen.
Zwei Seiten weiter im Kapitel „Frjazevo – Kilometer 61“ dementiert Venja eine beinahe böswillige Unterstellung, dass er so betrübt sei, weil er seit heute morgen nichts getrunken habe, indem er geradezu beleidigt erklärt: „Как, тоесть, ничего! И разве это грусть? Это просто замутненность глаз… Я просто немного поддал…“[42]. Doch die Übersetzung stellt uns wieder mal vor die nächste Absurdität: „Was heißt hier nichts! Und ist das etwa Traurigkeit? Das ist einfach eine Trübung der Augen … Ich habe einfach ein bisschen dick aufgetragen …“[43] Nun ,dick auftragen‘ heißt eigentlich soviel wie übertreiben und passt in die Passage mit dieser Bedeutung sinngemäß nicht ganz richtig hinein. Ist ja auch nicht weiter verwunderlich, denn ,поддать‘ heißt in der russischen Umgangssprache in der jeweiligen Situation ,einen hinter die Binde kippen‘. Und so klafft der Phraseologismus der beiden Wendungen sowie der Sinn der russischen und der deutschen Variante weit auseinander.
Als die Diskussionsrunde ihr Thema wechselt und anfängt über die Liebe wie bei Iwan Turgenew zu sprechen, stoßen immer neue Teilnehmer zu der Runde zu, so z. B. eine Frauengestalt in einer braunen Baskenmütze. Die Meinung der Runde in Bezug auf die Aufnahme neuer Teilnehmer, spaltet sich – die einen sind strikt dagegen, die anderen und darunter auch der Protagonist plädieren dafür. „Ну почему, почему! – я запротестовал и засуетился. – Пусть сядет! Пусть чего-нибудь да расскажет! — «Читали Тургенева, читали Максима Горького, а толку с вас!..» – Я потеснился.“[44] Damit protestiert Venja gegen diejenigen, die die Frau nicht aufnehmen und wegschicken wollen. Gleichzeitig wirft er ihnen vor, dass obwohl sie so belesen sind und Turgenew und Maxim Gorki gelesen haben, nichts daraus gelernt hätten. Insbesondere, da sie soeben den Frauenaspekt bei den beiden Klassikern besprochen haben und sich sogar erinnert haben, dass Gorki auf Capri mal gesagt hätte, dass der Maßstab jeder Zivilisation die Art und Weise des Umgangs mit der Frau sei. Jetzt wollen wir kurz die übersetze Variante dieser Passage auf den besprochenen Inhalt überprüfen. „Warum, warum! – protestierte ich und wurde fahrig. – Soll sie sich setzten! Soll sie uns was erzählen! – »Sie haben Turgenev gelesen, haben Maxim Gorkij gelesen, vielleicht kommt ja was dabei raus …!« Ich rückte beiseite.“[45] Kurz gefasst, wir haben es hier mit einer sinnentstellenden Verwechselung der Adressanten schlechthin zu tun. Statt eines Vorwurfs gegen die alteingesessenen Teilnehmer der Diskussionsrunde mit ihren chauvinistischen Einstellungen wird in der Übersetzung ein Aussagesatz an die Frau gerichtet und zwar mit der feststellenden Behauptung, dass sie die beiden Klassiker gelesen hat und dass dabei was rauskommen soll. Abgesehen von der Verdrehung des Originalinhalts entzieht sich auch diese Sicherheit in der Behauptung über die Belesenheit der Frau jeglicher Logik, denn dem Originaltext nach ist sie soeben aufgetaucht und hat ihre Kenntnisse noch nicht offenbart.
Nach der Aufnahme in die Runde und der Einnahme einer gebührenden Aufnahmedosis erzählt die Baskenmützeträgerin über ihr leidvolles Schicksal, ihre Abenteuerlust und wie sie durch Puschkin zu Schaden kam. „Und dann hat dieser Puškin alles verkorkst! … Ich bin nämlich wie Jeanne d’Arc. Die hat genau wie ich – statt Kühe zu hüten und Getreide zu mähen – hat die sich auf ein Pferd gesetzt und ist nach Orléans galoppiert, um auf ihrem Arsch Abenteuer zu suchen.“[46] Was soll sich der deutschsprachige Leser unter dieser angeblich idiomatischen Wendung zusammenreimen und wie kann man auf seinem Allerwertesten, außer nach irgendwelchen dermatologischen Unebenheiten u.ä., nach etwas Abstraktem wie Abenteuer suchen. Selbst als Lehnübersetzung ist diese falsch, da die Rektion einfach nicht stimmt – im Russischen sucht man Abenteuer auf seinen A… im Akkusativ, so wie „Betreten auf eigene Gefahr“. Aber selbst dann ist diese Entlehnung sehr unglücklich, weil das Deutsche diesen Phraseologismus samt seinem standardsprachlichen Ursprung ,насвоюголовуприключенийискать‘ (wörtlich übersetzt – Abenteuer auf sein Haupt suchen) einfach nicht kennt und keine sinnverwandte Äquivalenz bieten kann. Sollte man trotz alledem unbedingt darauf beharren, dieses schneidige und etwas flegelhafte Bild vom hinteren Teil in die Übersetzung zu übernehmen, warum dann nicht versuchen zu umschreiben wie etwa in der alten Version: „Ich bin nämlich wie Jeanne d’Arc. Was tut die, anstatt ihre Kühe zu hüten und ihr Korn zu ernten? Schwingt sich aufs Pferd und reitet auf ihrem Hintern nach Orleans, Abenteuer suchen.“[47]
Im weiteren Verlauf ihrer Erzählung über die gefährlichen Nebenwirkungen der russischen Literatur schildert sie einen weiteren Zusammenstoß mit ihrem Liebhaber, dem Komsomolorganisator Evtjuškin. An diesem Tag hat sie einen über den Durst getrunken und da sie nicht auf Arbeit war, hat sie ihren Liebsten mit den Literaturfragen so weit gebracht, dass er ihr den Schädel brach und nach Wladimir an der Kljasma verschwand. Nun steht in der Übersetzung für den Grund ihres Fehlens am Arbeitsplatz folgendes: „Und ich saß zu dieser Zeit in der Krankenabteilung, Gehirnerschütterung und Darmverschluss …“[48]. Schenkt man dieser Aussage Glauben, heißt es dann, dass man sich in den Krankenabteilungen Russlands immer einen hinter die Binde kippen kann, oder dass es eine russische Heilkur per se ist. Diese seit je feststehende Redewendung des russischen Alltags ,сидетьнабольничном‘, daher auch „saß“ in der Übersetzung, bedeutet nichts weiter als krankgeschrieben sein. Und genau das hat die Erzählerin im Original gemeint, dass sie zu der Zeit wegen Gehirnerschütterung und Darmverschluss krankgeschrieben war.
Nach dem Bericht über ihren Leidensweg fühlt sich die durch Puschkin Geschädigte sehr geschwächt und ausgelaugt, weshalb sie sich auch zwecks einer Stärkung an Venja wendet: „Делокобмороку, малый. Налей-ка еще чуток…“[49] Doch die Übersetzung macht etwas Umgekehrtes und Absurdes daraus: „Es ist, um in Ohnmacht zu fallen, Junge. Schenk mir noch was ein.“[50] Demnach will sie unbedingt in Ohmacht fallen und deswegen bittet sie um noch einen Schluck. Im russischen Original jedoch will sie die Ohnmacht vermeiden und gerade deswegen will sie zur Stärkung noch einen Tropfen. Die Wendung ,делок‘ im Russischen impliziert, dass etwas bald anfängt und man etwas dagegen unternehmen muss. Dabei muss es nicht unbedingt etwas Negatives oder Unerwünschtes sein. Man sagt zum Beispiel ,делоквечеру‘ (es wird bald Abend) und meint dabei, dass es an der Zeit ist nach Hause zu gehen o.ä.
Im Kapitel „Nazarjevo – Drezna“ referiert Venja über seine meist negativen Auslandserfahrungen. Nach einer schiefgelaufenen Italienreise wollte er sich für eine Zeitlang in Paris niederlassen. Zu diesem Zwecke hat er sich eine Mansarde gemietet, zwölf Pfeifen nach Ehrenburgischer Art geraucht und angefangen Essays zu schreiben. Aber jedes Mal wurden seine Essays ihm, obwohl tiefen philosophischen Inhalts, zurückgeschickt. Und letztendlich hat ihn das so aufgebracht, „dass ich ausgespuckt, meine Manuskripte, die Mansarde und das Entresol verbrannt habe und über Verdun zum Ärmelkanal vorgedrungen bin.“[51] Schon wieder muss der aufmerksame Leser fragen, was Venja da jetzt ausspuckt und warum. Nur weil das Verb im Original allein steht, heißt es noch lange nicht, dass man es wörtlich übernehmen müsste. Für den russischsprachigen Rezipienten bereitet es keine weiteren Schwierigkeiten dieses Verb als eine häufige Abkürzung der umgangssprachlichen Wendung ,начто-топлюнуть‘ zu identifizieren, was dem deutschen Rezipienten durch die der russischen äquivalente Wendung ,auf etw. pfeifen‘ zu vermitteln wäre. Und so gewinnt die Passage mit ihrem eigentlich hier unsinnigen „ausspucken“ ihre ursprüngliche Logik, wenn man diese russische Wendung äquivalent wiedergibt – „Ich pfiff auf die ganze Sache, verbrannte meine Manuskripte …“.[52]
Um eine Zeit-Verzerrung in den besten Science-Fiction-Traditionen kommen wir anscheinend auch nicht umhin. Im nächsten Kapitel versammeln sich Venja und seine Gleichgesinnten vor einem Viehhof, um von dort aus mit dem Siegeszug ihrer Revolution zu starten. „Um neun Uhr Greenwicher Zeit, im Gras vor dem Viehhof, saßen wir und warteten. (…) … aber danach stand uns nicht der Sinn: neun null-null Greenwicher Zeit rückte näher …“.[53] Wie kommt es, fragt sich der Leser erstaunt, dass sie um neun Uhr da saßen und warteten und neun null-null näher rückte? Es klingt entweder nach einer böswilligen Absurdität des Autors oder da stimmt etwas mit der Greenwicher Zeit nicht. In Wirklichkeit trifft weder das eine noch das andere zu. Die Verwirrung rührt daher, dass im Original die Passage mit „ВдевятомчасупоГринвичу…“[54] anfängt, was auf gut Deutsch nach acht Uhr bzw. in der neunten Stunde heißt.
Die Revolutionsthematik wird unumgänglich von einer ganzen Reihe sowjetischer, bürokratischer Begriffe und Institutionsbezeichnungen begleitet. Diese werden fast alle in der Übersetzung transkribiert und im Anmerkungsapparat erörtert. Zu den unnötigen Russizismen, die keine sinn- bzw. stiltragende Bedeutung an sich haben und ohne jegliche Verluste übersetzt werden dürften und welche den Textfluss meistens negativ beeinflussen sowie den Leser durch ständiges Nachschlagen im Anmerkungsapparat abhetzen, haben wir uns schon oben geäußert. Wir möchten hier nur einige von ihnen aufführen: Selsowjet auf Seite 127, Selpo-Lager ebda, Rajzentrum S. 132 etc. Wenn der Übersetzer diese Wörter für so wichtig hält, dass er sie nicht übersetzt, sondern diese im Anmerkungsapparat ausführlicher behandelt, dann müsste der Leser auch davon ausgehen können, dass diese quasi wissenschaftlichen Kommentare zuverlässig sind. Doch leider ist es nicht immer der Fall. Die eigens für diese Übersetzung gemachten Kommentare, die nicht bei Vlasov schon vorhanden sind, halten öfters nicht das, was sie versprechen. So z. B. die Anmerkung zum Selpo: „Selpo-Lager – sowjet. Abk. für Selskaja potrebitel’naja kooperacija: ländlich-dörfliche Verbraucher-Kooperative“[55]. Es ist tatsächlich eine Abkürzung, die aber für „сельскоепотребительскоеобщество“ (translit. sel’skoe potrebitel’skoe obŝestvo) steht und daher kommt auch das „o“ am Ende. Außerdem ist es ein ziemlicher Unterschied zwischen potrebitel’naja (Gebrauchs-) und potrebitel’skaja (Verbraucher-), aber wer wird das schon wissen wollen. Manchmal findet man unter den oben bezeichneten Kommentaren vollkommen hanebüchene Interpretationen. „Rajzentrum – sowjet. Abkürzung f. Gebiets-, Kreiszentrum, russ. rajonnyj centr. Raj bedeutet für sich allein: das biblische Paradies.“[56] Was soll man da von dieser paradiesischen Erklärung halten – die kann doch nicht ernst gemeint sein, oder? Es ist eigentlich kein Geheimnis, dass das russische Nomen „район“ (translit. rajon) vom französischen „rayon“ kommt, welches seinerseits aus dem lateinischen „radius“ stammt. Und noch ein letztes Beispiel der wilden Interpretationen aus dem Kommentarteil: „besonders die Golan-Höhen – der Name enthält die russ. Wortwurzel gol-, nackt, nackig, kahl.“[57] Eigentlich bedarf es keines weiteren Kommentars. Denn diese Feststellung spricht für sich selbst, dass eine Sprache, die solche Wörter wie Голгофа (Golgatha), Голландия (Holland), Гольфстрим (Golfstrom), голень (Unterschenkel), голубец (Kohlroulade) etc. mit der russ. Wortwurzel gol- mitführt, vom Freudischen Vermächtnis sehr schwer gezeichnet sein muss. Diese Art von Interpretationen hat Nabokov in seinem Artikel „Pounding on the clavichord“ zu der Übersetzung von Puschkins Onegin bereits 1964 sehr treffend mit einem seiner Lieblingsworte „otsebyatina“ (отсебятина – ,von sich selbst‘, ,Eigenmächtigkeit‘) bezeichnet und gnadenlos an den Pranger gestellt.
Da diese Arbeit, anfangs als ein kurzer Artikel gedacht, inzwischen in etwas viel Größeres auszuufern droht, müssen wir energischer durchgreifen und langsam zum Ende kommen. Noch als ein Abschiedstrunk mit auf den Weg (напосошок) möchten wir ein letztes Beispiel aus der Welt der unglückseligen Phraseologismen, last but not least, anführen. Nachdem die so glorreich angefangene Revolution allem Anschein nach im Sande verläuft, da niemand auf die Forderungen der Revolutionäre eingegangen war und sie einfach von der restlichen Welt ignoriert wurden, beschließt Venja von seinem Posten des Präsidenten zurückzutreten. Im dritten Plenum verkündet der Präsident seinen offiziellen Rücktritt, aber die Delegierten versuchen ihn noch umzustimmen: „Verzweifle nicht, Venja! Mach dir nicht in die Hose! Bomber werden sie uns geben! B-52 werden sie uns geben!“, worauf der von ihrer missglückten Revolution enttäuschte Präsident antwortet: „Und ob! die geben uns B-52! Haltet die Taschen zu! Es ist geradezu lächerlich, euch zuzuhören, Senatoren!“ Immer noch derselbe aufmerksamer Leser würde hier schon wieder stolpern und sich abermals fragen, was hat es mit dem Zuhalten von Taschen an sich und, ob er verpasst hatte, als die Senatoren ihre Taschen aufhielten. Wenn irgendeine Phrase im Text völlig aus der Reihe tanzt und eigentlich keinen Sinn ergibt – spätestens dann sollte ein Übersetzer Verdacht schöpfen, dass möglicherweise nicht der Originaltext, sondern er falsch liege. Doch beim Übersetzen der postmodernen, insbesondere russischen postmodernen Literatur, die von der absurdistischen literarischen Tradition sehr stark geprägt ist, kann man von diesen Vorteilen immer profitieren, indem man alles angeblich Ungereimte im Original der scheinbar vom Autor intendierten Absurdität des Werkes anrechnen kann. Keine Frage, der Originaltext weist mehrere groteske und absurde Stellen auf, die aber den stilistischen und literarischen Gesetzen unterliegen, so dass sie die besten literarischen Traditionen bewahren und fortführen. Die Absurdität in der Übersetzung ist leider weit davon entfernt und liest sich als purer Unsinn. Außerdem steht der Ausdruck fast in jedem herkömmlichen Wörterbuch ,держи карман шире! – da kannst du lange warten! ‘, nur wird ,шире‘ sehr oft in der Umgangsprache weggelassen. Somit klingt Venjas Antwort auf die ermunternden Zusicherungen seiner Senatoren, dass sie noch alles kriegen werden als „Darauf könnt ihr lange warten, Herren Senatoren!“[58]
Der Verlag hat auch den Schritt mitgehalten und als Krönung seiner Neuerscheinung eine glänzende Leistung zu Tage gebracht – unter den Verlagsangaben auf der letzten Seite wird der Originaltitel noch origineller wiedergegeben: „Titel der Originalausgabe: МОСКВА – ПЕТУЧШКИ“ (Kursiv d.V.).
Dies war lediglich eine bescheidene Auswahl der zahlreichen Entgleisungen, Verwirrungen und Auslassungen, die die Neuübersetzung bedauerlicherweise vorzuweisen hat. Gerechtigkeitshalber muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass Erofeevs Werk zum Übertragen in eine Fremdsprache eine extrem harte Nuss ist. Im Nachwort zur Neuerscheinung erklärt der Übersetzer, warum man Erofeev im Westen nicht verstanden und sein Werk eher als ein „urkomisches Buch“ aufgefasst hat. „Überlesen hatte man wohl dort wie hier die Widmung, in der Erofeev sein Gedicht ausdrücklich »tragische Blätter« nennt.“[59] Kurzum mit den Worten des Übersetzers zu sagen, hat die Neuübersetzung wohl überlesen, dass Erofeevs Werk in erster Linie ein Poem ist. Nun wird wahrscheinlich die Erofeevsche Leserschaft in Deutschland bald in zwei Lager gespalten sein. Denn obwohl die alte Übersetzung den meisten Intertext nicht aufgedeckt hatte, nicht zuletzt weil sie schon fast 30 Jahre zurückliegt als noch gar keine Kommentare gab, bewahrt sie zum größten Teil das geistreiche stilistische Jonglieren der Originalsprache des Autors. Für die Verfechter einer präziseren, teilweise philologischen Übersetzung — oder sollte man hier einer postmodernen Übersetzung sagen — gilt zweifellos mit Ausnahme einer ganzen Reihe von Unebenheiten die Neuübersetzung mit ihrem zum richtigen Verständnis des werkimmanenten Intertextes erforderlichen Kommentarteil als die korrektere Version.
Berlin, Januar 2006