Опубликовано в журнале Студия, номер 12, 2008
Der Wasserturm könnte gut ein Anfang sein, der alles übrige nach sich zieht, denn die Dinge treten in Erscheinung, sobald ihre Namen bekannt werden, nur so erfährt das Geschehen draußen vor dem Fenster seinen Sinn, wo die Soldaten ihr Werk beenden, indem sie die aus weißen Klinkern bestehende Zahl └1928“ in den oberen Ring des gemauerten Zylinders einsetzen, nicht ahnend, daß jemand sie bei ihrem Tun beobachtet und sich sein Teil dabei denkt, fast ohne Worte zwar, doch äußerst stichhaltig: daß nämlich jeder Turm und sogar jeder Schornstein anfangs so gebaut wird, als sollte er sich in den Himmel erheben, ein tägliches Hinzufügen neuer Ziegellager könnte zu nichts anderem führen, beschlössen die Erbauer nicht eines Tages fortzugehen, was zur Folge hat, daß irgendein Ziegel der letzte ist, und nur ich bin Zeuge gewesen, wie die Arbeiten eingestellt wurden, keiner außer mir in dem Haus gegenüber weiß, was die leeren Gerüste zu bedeuten haben, so daß die Augen ganz von selber nach rechts wandern, bis ans Ende des mit Erde gefüllten Holzkästchens, in dem überall Apfelkerne stecken, und die Tapete steht etwas von der Wand ab, wodurch eine darunterliegende Schicht Tapete sichtbar wird und der gelbe Rand einer Zeitung aus vorrevolutionären Zeiten, als bärtige Herren mit seltsam geformten Hüten und Uhrenkettchen auf den Westen, ihr Ende vor Augen, inmitten entkleideter Frauen und gepeinigter Arbeiter Champagner tranken, während Lenin und Stalin, am Fenster stehend, die erste Nummer der Prawda lasen und das Weitere kommen sahen, vielleicht sogar mich, wie ich, auf dem Bett der Tante sitzend, an einem endlos langen Sommertag Streifen von fliederblauem Zigarrenpapier auf schlanke Kantholztragflächen klebe und dabei aus dem Fenster schaue, ohne viel auf ihre verworrenen Berichte achtzugeben, wie erst die Weißen ins Dorf kamen und dann die Roten und dann wieder die Weißen und am Ende, wie sie sich ausdrückte, └unsre“, die du dir jedes Mal als kernige Typen in roten Hemden vorstellst, wenn dein Blick auf das Photo der Tante rechts neben der verstaubten Tragfläche fällt und du dich fragst, was das in Wirklichkeit bedeuten mag: einfach zu sterben, so wie es ihr widerfuhr und uns allen widerfahren könnte, falls wir nicht in unseren Werken unsterblich sein werden, wie die Klassenlehrerin Antonina Porfirewna es meint, die sich nach diesen Worten immer die Brille wischen muß, wodurch eine kurze Pause eintritt in ihrer Jahre währenden Erzählung über die sogenannten Kontinente, wie sie sich aus den grauen Fluten der Ozeane erheben, in denen selbst der größte Frachter der Welt so winzig wie ein Streichholz wirkte, betrachtete man ihn plötzlich aus dem Himmel, angefüllt mit Kranichen, die gen Kanada unterwegs sind, Kampfgeschwadern sowie schwarzen Flecken, die entstehen, wenn man zu lange in die Sonne schaut, welche immer mehr ihre Farbe ändert, je näher sie dem imaginierten Punkt kommt, den sie, rot schon und riesig, nur im Juni erreicht, um einige Minuten lang die Schrankkante zu berühren, seine obere Hälfte in Licht zu tauchen und zu verwandeln in was immer du willst, eine Bastion der Großen Mauer oder einen Felsen irgendwo in Amerika – je nachdem, wo du dein Leben hin haben willst, Hauptsache weg von diesem Ort, der dich angrunzt mit all seinen Schweinen, während du die dreckige Straße entlanggehst, deine Streichholzschachteletikettensammlung unterm Arm, und dir den mit Blut vermischten Rotz über das Gesicht schmierst, und es schreit dir hinterher, was sich stark fühlt zwischen den windschiefen Zäunen, verkündet, dich morgen noch mal so ungestraft wie heute zu verdreschen, weil keiner da ist, bei dem du dich beschweren könntest, und weil ein Erwachsener sowieso nicht unterscheidet zwischen einem prügelnden und einem verprügelten Kind, sofern sie beide das rote Halstuch, Fanfare und Trommel tragen und die Väter in Ruhe ihr stinkendes Bier trinken lassen und sowieso mit einem Bein in der Zukunft stehen, auch wenn sie einfach nur in Reih und Glied vor den Baracken des Pionierlagers angetreten sind und gegen die Sonne blinzeln, der die Stange hinaufkriechenden Flagge folgend oder dem Kater, der über das schon heiße Dachblech des Speisesaals schleicht, um gleich darauf ins Gebüsch hinunterzuspringen, wo sie sich am Abend versammeln, die tagsüber aufgelesenen und brüderlich geteilten Kippen rauchen, die konstruktive Beschaffenheit weiblicher Genitalien diskutieren, den blauen Rauch mit Zahnpulver austreibend, dessen Geschmack noch lange nach Verkünden der Nachtruhe im Mund verbleibt, im Gedächtnis als Appendix archiviert wird zur Gruselgeschichte vom blauen Fingernagel im Bratklops und von den Tschekisten, die nur wegen einer Reifenpanne so spät gekommen sind, und während im finsteren Hof das Rad gewechselt wird, hämmern sie an eine Tür und haben es dann dermaßen eilig aufzubrechen, daß der Nachbar sich im Gehen anziehen muß, auf dem Flur, gerade vor deinem Schlüsselloch, in das er, das Maß seiner Heimtücke vollzumachen, sehr gut einen spitzen Bleistift bohren könnte, nachdem er schon zerstoßenes Glas in die Butter gemischt und die Brunnen vergiftet hat, weil er wollte, daß du das typhusverseuchte Wasser trinkst und ein halbes Jahr im Bett liegen mußt, den Blick auf das Fenster gerichtet, wo hinter dem dichten Vorhang aus Schneeflocken die Umrisse des Wasserturms nur zu ahnen sind, den man für einen vor der Stadt postierten Wachsoldaten halten könnte, der deinen Schlaf bewachen soll und dich selber mit, damit du dich nicht noch in deiner eigenen Zukunft verkriechst, unter Ausnutzung einer milden Frühlingsnacht, die es dir erlaubt, dich fast ohne Bodenberührung ins schwarze Unterholz eines aus dem Nichts aufgetauchten Waldes zu schlagen, beinahe schon zu erkennen, wohin die wilde Flucht dich führt, ehe du erwachst und ein Blick auf die angelehnte Tür mit den munteren Morgenstimmen und dem Pfeifen des Primuskochers dahinter die Vorstellung weckt, daß der mit Truhen und Kommoden vollgestopfte lange Korridor allmorgendlich vor diese Tür geklappt wird wie ein Fallreep, über das du anschließend in die Tageswelt gelangst, die einzige, die du kennst, und je besser du sie kennst, desto seltener wird es passieren, daß die Tür deines Zimmers sich nach anderswo öffnet, Orten, deren Namen dir unbekannt sind und bleiben werden, da du schon viel zu sehr einem Menschen ähnelst, der auf dem Trittbrett einer anfahrenden Straßenbahn steht und weiß, daß es mit zunehmendem Tempo immer schwieriger sein wird, abzuspringen und seiner Wege zu gehen, solange diese Worte – └seiner Wege gehen“ – überhaupt noch irgendeinen Sinn ergeben, oder besser gesagt, den Abglanz eines früher gewußten Sinns, wie er hin und wieder in den Augen der Nebenstehenden aufschimmert, die aber doch, da sie die Fahrt fortsetzen, irgendeine Hoffnung zu haben scheinen und, so wie sie dich ansehen, gleiches von dir vermuten, während der eine Wodka ausschenkt, der andere Gitarre spielt, unter deren Klängen die Welt um dich her immer noch am zuverlässigsten zu gerinnen pflegt, eine Welt, die du gewählt hattest, bevor Gelegenheit war, sie mit irgendeiner anderen zu vergleichen, einzig mit der Gewißheit, daß alles in ihr furchtbar schnell gehen muß, und die Zeiten sind rauh, und die Zeiten sind groß, und obwohl der Filmschauspieler Utjossow davon singt, daß, wer mit einem Lied durchs Leben geht, nie und nirgends untergeht, gehen die Leute orchesterweise unter, bevor sie den Ort erreicht haben, zu dem sie unterwegs waren, und am Ende sind sie trotzdem dort, was kein Wunder ist, da das Land von einem grundlegenden Umschwung zum nächsten, noch grundlegenderen taumelt, immer der Parteilinie hinterher, die so scharf und abgezirkelt ist wie die Ecke deines Zimmers, in der das Grammophon steht mit dem Dutzend Platten, sieh, die erschöpfte Sonne nimmt zärtlichen Abschied vom Meer, nicht gern gesehener Luxus, den du dir leistest von Zeit zu Zeit: eine müde Sonne zu liebkosen, aus dem Karton einer orangenen Hutschachtel geschnitten, der letzten im ganzen Land, und du ahnst, daß das, wovon du endgültig Abschied genommen, sich genauso von dir losgesagt hat, wendest dich ab, siehst einen Dörrfisch auf dem Tisch liegen mit einer zerknitterten Prawda als Unterlage, daneben eine Flasche Bier und sonst nichts, anderes gehört auch nicht auf diesen Tisch, und das ist es allem Anschein nach, was zu verteidigen wäre, wenn morgen ein Krieg ausbräche, denn weder der unter dem Fenster sich wiegende Flieder bedarf deines Schutzes, noch der schmale Lichtstreif, der auf die ihn brechende Scheibe fällt, hinter der Gorkis Gesicht rot-blau-gelb zur Maske erstarrt ist, ein großer Freund unseres Staatswesens, der leider nicht mehr dazu kam, in seinen Büchern zu beschreiben, wie du und deinesgleichen in Sporthemden und weißen Schirmmützen von Millionen Türschwellen ihr Lächeln verschenken an sie und ihresgleichen in schlichten, geblümten Kattunkleidern, und augenblicklich klärt sich alles auf, denn alles Traurige und Unverständliche hat die Eigenschaft zu vergehen, und dein Leben hat nur den Sinn, den du selber ihm gibst, indem du zum Beispiel nachts mit einem klaren Ziel vor Augen über den volkseigenen Broschüren sitzt, statt im Bett zu liegen, und somit riskierst, ein für allemal den Arbeitsbeginn zu verschlafen und im Gefängnis zu landen, bei den Kriminellen, die zu blöd sind zu begreifen, daß in einem Land , auf dessen Geldscheinen ein in den unruhigen Himmel spähender Kampfflieger abgebildet ist, sowieso keiner reich werden kann, nicht einmal mit einer Armada solcher Piloten in der Tasche kannst du den Lautsprecher über dir zwingen, seinen weitaufgesperrten Schnabel zu halten, und nicht so sehr der Sinn hinter den herabprasselnden Worten lehrt dich das Fürchten, sondern die plötzliche Eingebung, du ganz allein könntest angesprochen sein von diesem Flüstertütenzauberer, der seine Brötchen damit verdient, dich geschickt für ein paar Sekunden glauben zu machen, etwas Großes, Übermächtiges spräche zu dir, bereit, die Fürsorge über dich zu übernehmen, während es in Wirklichkeit umgekehrt ist, du und deinesgleichen werden gebraucht, sich um dieses Ungetüm zu sorgen, es zu schützen und zu verteidigen, dieses leblose, nicht faßbare, um seine eigene Existenz nicht wissende Etwas, und dabei hast du nur den einen Versuch, der sich Leben nennt, einen hast du und einen hat der mit dem ausrasierten Nacken vor dir in der langen Schlange der zur Sammelstelle Einberufenen, doch der eben aufgeblitzte Gedanke entfällt dir vor Schreck, da du in dem Vordermann einen ehemaligen Schulkameraden erkennst, der nun von neuem dein Kamerad sein wird und den du wenigstens ein Stück zur Seite zerren solltest, damit er nicht so häßlich daliegt neben dem umgestürzten LKW, Füße auf dem Weg, Kopf im Wegerich, der schon zu Friedenszeiten in dieser Böschung wuchs, damit ihm die Ameisen nicht länger über das Gesicht krabbeln, das du von nun an immer vor dir siehst, wenn unsichtbare Flugzeuge über den Köpfen brummen oder wenn einer, der ihm sehr ähnlich sieht, in zivilen Galoschen schlurfend an dir vorbei den Bahnsteig entlang eskortiert wird, nachdem er so dreist war, erst die Vorgesetzten zur Rede stellen zu wollen und dann auch noch zu fliehen, indem er sich in drei Metern Entfernung von dir aus dem letzten Waggon fallen läßt, der dich davonträgt in den Winter, zu den Skiern, Leningrader Fabrikat, zu dem weißen Tarnumhang, in dem du das neue Jahr begrüßt, und während du aus den Schneewehen in den frostklaren Nachthimmel starrst, wo zwei rote Leuchtraketen hängen, glänzend wie Weihnachtsbaumkugeln, fällt dir ein, daß ein nur für Momente in Ruhe gelassener Mensch plötzlich so weit weg sein kann von denen, die ihn in Ruhe gelassen, daß sie an seiner Stelle einen ganz anderen vorfinden werden, der so gar keine Lust mehr hat, den Schützengraben noch tiefer zu graben, der statt dessen versucht, sich zur Wand zu drehen und weiterzuschlafen, weil er vergessen hat, daß neben seinem Bett keine Wand ist, da sind nur zwei schmale Gänge, gerade ausreichend, um neu zu lernen, wie man die Beine anwinkelt und wieder streckt, um anschließend wieder stehen und gehen zu lernen und am Ende den Lastwagen hinterherzurennen, die nur kurz abbremsen und dann weiterrollen, der Sommersonne entgegen, den Schulterklappen und der Maschinenpistole, die aussieht wie ein Besen mit angesetzter Konservenbüchse und aus der du in zwei Jahren keinen einzigen Schuß abgibst, weil du die meiste Zeit immer nur entweder die Schulbank vor dir hast, wo früher einmal ein └Kolja Tschugunkow, 7a“ saß, der mit violetter Tinte schrieb, und ein anderer, der └ist doof“ dazugeschrieben hat, und wo sich jetzt die Listen mit Namen von Lebenden und Toten stapeln, oder den umfunktionierten Billardtisch, dessen Bespannung das Benzin, das aus der umgekippten Patronenhülse läuft, so schnell aufsaugt, daß du schon glaubst, kein gewiefter Saboteur zu sein, wie ein vielsagender Blick des Genossen Kosheurow dir weismachen will, sondern, verdammt noch mal, einfach ein bescheuerter Tölpel, zu dumm zum Lichtanzünden, und erst als du schon eine geschlagene Woche in den aus fremdem Himmel fallenden Schnee starrst, und dein Blick geht von den Kindern, die hungrig sind, aber nicht müde werden, ihn als Baumaterial für Höhlen und Burgen anzusehen, zum Frontkorrespondenten, der so enthusiastisch unter seinem schwarzemaillierten Schild hervor auf die unbekannte Stadt blickt, als sähe er nicht zufällig ein paar Leichen im Böschungsmatsch liegen, sondern die Morgenröte des Sieges über den Grenzpfählen stehen, wovon du dann in der Frontzeitung liest, erst da also begreifst du, daß es Menschen gibt, die die Landschaft, durch die du zum letzten Mal auf ein Maschinengewehr zuläufst, gründlich zuzurichten wissen, so gründlich, daß sie untereinander in einer eigenen Sprache zu sprechen gezwungen sind, ganz wie jene Transportoffiziere in der Fremde, die an einem warmen Maiabend auf einem Spielzeugbahnhof sitzen und über irgendwelche Kubikmaße und Waggonaufkommen diskutieren, solche Bahnhöfe gibt es bei uns nie und nimmer, denn diesseits der Grenze ist alles umgekehrt: Das Kinderspielzeug sieht aus wie in der Waggonfabrik hergestellt, und die Leute spielen zu Hause Gefängnis, damit die Notwendigkeit, sie in ein richtiges zu stecken, entfällt, führen Krieg mit ihren Mitinsassen, stürmen und besetzen wie ein Mann die oberen Pritschen, und du mußt dich gar nicht wundern, daß die Frau, der du vier Jahre lang Briefe geschrieben, wobei du dich jedes Mal mühtest, ganz hinein in das gefaltete Papierdreieck zu schlüpfen, daß diese Frau nicht verstehen kann, wieso du ihr aus Deutschland nicht eine Wagenladung Plunder mitgebracht hast, sondern nur eine Uhr im Stahlgehäuse erbeutet und einen alten Photoapparat, den du an die Wand des Zimmers hängst, in dem du geboren und aufgewachsen bist, wofür du einen Nagel in die neuen Tapeten schlagen mußtest, in das rosa Muster, das bald schon deine ganze Umgebung überziehen wird, einstweilen nur gelegentlich auf der Netzhaut deines linken Auges erscheint, erst nach dem dritten Wodka, dessen Geruch sie die Nase rümpfen läßt, weil sie nicht begreift, daß ein Mensch seine Vergangenheit vergessen können muß, will er sein Leben weiterleben, in dem es gilt, der dreisten Angestellten aus der Kaderleitung mit einem Lächeln zu kommen, zur Prüfung die Kriegsorden anzulegen und ab und zu ein paar Fliederzweige mit nach Hause zu bringen, die an Vorkriegstinte denken lassen oder aber an ein Maifeuerwerk, was lebt, sofern es das in dieser Stadt überhaupt noch gibt, die für Lastwagen besser geeignet ist als für Menschen, besonders kleine, die Nächte hindurch brüllen in ihren Bettchen, während sie entweder auf die an der Zimmerdecke entlangwandernden Lichtquadrate starren oder in das Gesicht der Mutter, bemalt mit Lippenstift und Wimperntusche, die irgendwelche Gauner auf dem Bahnhofsplatz ihr angedreht haben, wo neuerdings unglaubliche, einem Traum entwichen scheinende himmelblaue Pobeda-Limousinen kreuzen und die Fenster in den Häusern heimelig erleuchtet sind, glauben machend, daß nie wiederkommt, was war, oder andersherum gesagt, daß alles vorbei ist und nichts von dir übrig als das, worüber du Jacke und Hose ziehst, bevor du zur Arbeit gehst, und, wenn du zurückkommst, den Schlafanzug, der ein chinesischer Skianzug sein könnte, und in dein Bett plumpst neben einer Person vom anderen Geschlecht mit ausladendem Hinterteil, eine Erfahrung, die du mit so vielen teilst, daß es sogar ein besonderes Wort dafür gibt: └meine Frau“, zur Kennzeichnung dessen, was du beim Anblick dieser toupierten Fransen empfindest, mit dem Duft des Parfüms └Kolchosniza“ in der Nase, der so tief in allem steckt, daß das Zimmer, worin vier Personen essen und atmen, an einen Frisörsalon am Tag von Stalins Beerdigung denken läßt, der übrigens ein todunglücklicher Mann sein muß, da er doch all seine Staats- und Parteiämter aufzugeben gezwungen ist wegen eines profanen Todesfalls, in dessen Folge sich plötzlich herausstellt, daß in jeden granitenen Hintern mühelos ein Maiskolben hineinpaßt, was man schon viel früher hätte wissen können, wäre nur ein bißchen Zeit zum Innehalten gewesen, die aber leider nicht zur Verfügung stand, nicht mal den Kindern, die mit ihren Schulranzen aussehen wie kleine Kosmonauten, gelandet und ausgesetzt auf dieser häßlichen Erde zum friedlichsten Zeitpunkt ihrer Geschichte, und die es in der kurzen Zeit ihres Hierseins schon geschafft haben, eine neue, unbegreifliche Welt um sich her zu errichten, eine, von der du nie etwas wissen wirst, so daß es klüger wäre, sich den wenigen Freuden zuzuwenden, die das Leben noch zu bieten hat, und sich möglichst wenig aus dem Fenster zu lehnen, denn freiwillig aus dem Leben zu gehen ist Sache der Schwachen, Starke werden aus dem Leben gezwungen, und deine besten Jahre brechen doch gerade erst an, wo unten ein cremefarbener Wagen mit fliehendem Elch auf der Motorhaube für dich parkt, gesundheitlich alles zum Besten steht, von hinten wirst du manchmal noch als └junger Mann“ angesprochen, weil deinen Hinterkopf noch Haare zieren, und außerdem bist du gefragt bei denen, die dich an den Händen zerren, Papa zu dir sagen und sich ein lustiges Mitbringsel von deiner Arbeit wünschen, wo ein Formular mit dem Aufdruck └Geheim!“ noch zum Lustigsten gehört, denn derart bissige Hunde schleichen dort, in Anzüge kostümiert, über die Flure, daß man selber unentwegt knurren muß, um nicht versehentlich angefallen zu werden, aber das tut man sowieso, weil man sich des Lebens freut, was man sich selbst und anderen ständig beweisen muß, um es mit einer Demonstration desselben vergolten zu bekommen, immerzu muß man lächeln, muß sich einen Schnurrbart stehen lassen, im Hauskomitee mit Anträgen herumwedeln und so weiter, nur so werden sich vielleicht zwei oder drei Idioten finden, die dich besuchen kommen und sagen, du lebtest wie ein König, woraufhin du dir ausmalen kannst, was ein König fühlt, der schon das zehnte Jahr im gemächlichen Trab durch die fliedergesäumten Alleen reitet, Leute im Blick, die den Tag, an dem er der jüngst ins Jenseits abgetretenen Königin folgen wird, überleben werden, und damit du dieses Gefühl ja nicht wieder vergißt, mit keinem anderen verwechselst, hast du Kinder, die schon davon träumen, die Wohnung gegen mehrere kleine einzutauschen, dabei hast du sie mühsam genug zusammengerafft, ein freiwerdendes Zimmer nach dem anderen, hast sie zusammengesetzt wie im Kindergeduldsspiel die Würfel zu einem großen Bild, in der Hoffnung, daß es am Ende aufgeht, und als es endlich aufgegangen war, mochtest du nicht mehr hinschauen, weil du ahntest, was für ein Bild herausgekommen war, und nun bist du gezwungen, die schon schimmelnden Teile der Welt von dir abzuspalten, um auf dem schmalen Grat des Sinns die Balance zu halten, Fernsehen zu gucken und zu spekulieren, ob die anderen das gleiche fühlen, und wenn ja, warum sie dann mit soviel Sorgfalt ihre letzten verbliebenen Haarsträhnen über die Glatze kämmen und beim Lächeln ihr Plastikgebiß zeigen, das sie, wie im übrigen auch du, nachts in eine nach Flieder duftende Speziallösung legen, worauf sie noch lange vor dem Becher stehen und sinnen, woran sie dieser Duft erinnert, und es fällt ihnen nicht ein, statt dessen erhebt sich der Gedanke, daß man inzwischen ebenso sehr in Zweifel ist, ob das Leben existiert, wie man früher die Existenz des Todes in Zweifel gezogen, und von dieser Erkenntnis wird dir dermaßen angst, daß du gleich drei Dinge auf einmal tust: eine Zigarette anzünden, den Fernseher einschalten und ein kürzlich gekauftes Buch aufschlagen, die Kunde von Ihm erscholl durch ganz Syrien, steht da zu lesen, und sie brachten zu Ihm alle Kranken, mit mancherlei Leiden und Plagen behaftet, Besessene, Mondsüchtige und Gelähmte, und Er machte sie gesund, und es folgte Ihm eine große Menge aus Galiläa, aus den Zehn Städten, aus Jerusalem, aus Judäa und von jenseits des Jordans, von wo die Stimme des arabischen Volkes immer lauter und wütender herüberdringt, kurzzeitige Niederschläge verspricht und achtzehn bis zwanzig Grad Celsius – genau das Richtige für den rituellen Ausflug ins Häuschen vor der Stadt, wo du als unvermeidliches Übel empfangen wirst und, aus dem Fenster schauend, einen Pilz stehen siehst, direkt neben der Hauswand, wie ein kleiner Mensch oder wie ein kleiner Wasserturm, was im Grunde ein und dasselbe ist, wenn man bedenkt, daß der Mensch nicht viel anderes ist als eine zwei Meter hohe Wassersäule, fähig, selbsttätig auf der Erdoberfläche zu wandeln, durch die hereinbrechende Dämmerung zur Bahnstation beispielsweise, wobei du der Musik lauschst, die von irgendwoher an dein Ohr dringt und sich herzlich wenig dafür eignet, eines deiner momentanen Gefühle darin unterzubringen, weshalb sie dir fremd und widerwärtig vorkommt, aber anscheinend trotzdem schön ist, schon weil es überall Leute gibt, denen selbiges ohne Mühe gelingt, und dies auch an Tagen, da du dich so klammheimlich, wie andere ihren Portwein trinken, in Treppenhäusern und Fahrstühlen bekreuzigst, einen schwarzen Mantel tragend, der sich schamlos als dein letzter zu erkennen gibt, und allen Ernstes glaubst, einen Halt finden zu müssen in jenem zum Spaß und zur Erbauung erworbenen Buch, nachdem du wieder vergeblich versucht hast, die anzurufen, die einmal deine Kinder gewesen, nur um deine eigene Stimme munter und selbstgewiß im Hörer klingen zu hören und aufs neue erfahren zu müssen, daß nichts und niemand dich noch braucht auf dieser Welt, die enger wird, je weiter dein Blick über die Tapeten hin auf das helle Viereck des Fensters hinter der Gardine zurückt, an die du dich klammerst in der Hoffnung, es möge noch einmal vorübergehen, solltest du es vermeiden können, daß deine Augen noch weiter nach rechts wandern – in dem Moment nämlich, wo einer anfängt, das dreieckige Fenster in dem kleinen grünen Turmdach als jenes Auge anzusehen, welches seit seiner Geburt auf ihn gerichtet ist, spielt es keine Rolle mehr, wie er fällt und daß der letzte Gegenstand, den er auf Erden gesehen, ein Wasserturm ist.
(1988)
Die Brücke, über die ich hatte gehen wollen
In einem seiner Romane nennt Milan Kundera die Frage eine Verstehensbrücke, geschlagen von Mensch zu Mensch. Dieser Vergleich funktioniert in beide Richtungen. Die Frage ist wie eine Brücke, die Brücke ist wie eine Frage, die der Mensch an Zeit und Raum hat: Was ist da drüben auf der anderen Seite? Es gibt allerdings auch Brücken, die eher wie Antworten sind.
Als ich zwölf war, stieg ich jeden Tag aufs Fahrrad und fuhr die Chaussee entlang zu dem Kanal, der einmal von Gulag-Häftlingen gebaut worden war. In Höhe des Kanals schwang sich die Chaussee auf und darüber hinweg, wozu sie sich in eine von zwei Stahlbögen gehaltene Brücke verwandelte – wie ein Flitzbogen, mit der Sehne nach unten. Unter ihr verlief ein Streifen gelber Flußsand, zu dem ich hin wollte. Ganze Häuser baute ich aus dem Sand, die jedesmal wieder zerstört wurden, wenn ein Flußdampfer oder ein großer Lastkahn vorbeikam. Stundenlang lag ich am Ufer, sah die Sonne sich in den Fensterscheiben am gegenüberliegenden Ufer spiegeln, die fernen Holzzäune, das staubige Grün der Obstgärten. So seltsam es erscheinen mag: Nie habe ich diese Brücke überquert, auch wenn ich manchmal Lust dazu hatte.
Fünfzehn Jahre später befuhr ich erneut diese Chaussee – und wieder per Fahrrad. Mir fiel die Brücke ein, die ich damals immer hatte überqueren wollen. Der Gedanke, es nun endlich einmal zu tun, erfüllte mich mit nicht vorherzusehender Freude. Ich wußte: Indem ich das tat, verwischte ich die Grenze zwischen dem, der ich heute, und dem, der ich damals war; es würde bedeuten, daß der Junge von damals und ich doch ein und dasselbe waren. Ein alchimistischer Akt! Den Vorgeschmack auszukosten, fuhr ich langsam. Kurz vor dem Ziel fiel mir eine Merkwürdigkeit auf: Die Chaussee wurde breiter und zog nach rechts, während sie früher geradeaus verlaufen war. Und dann sah ich sie, die neue Betonbrücke, über die die Straße nunmehr ging. Die alte stand hundert Meter weiter links – sie hatte sich überhaupt nicht verändert, nur daß die Straßenanschlüsse zerstört waren, zu beiden Seiten der Brücke das schroffe Nichts. Dies war nun eine gute Antwort.
Allerdings habe ich den Verdacht, daß es sich bei der Lethe nicht um jenes Gewässer handelt, in das wir nach dem Tod eintauchen, nein, es ist der Fluß, über den wir zu Lebzeiten setzen. Mit der Brücke unter den Füßen. Aber ob es Ufer gibt? Eine Grenze überschritten zu haben, kann ich mich nicht erinnern. Grenzen, auf die ich mich zubewege, sehe ich nicht. Ließe sich behaupten, daß ich irgendwoher komme, irgendwohin gehe? Und trotzdem tröstet es mich, das Leben mit einem Brückenspaziergang zu vergleichen, dem Gang über jene Brücke, über die zu gelangen ich schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Eigentlich, so denke ich manchmal, habe ich im Leben nie etwas anderes getan, als mit meinen Schritten jenes in der Luft hängende, ins Nichts führende Stück Straße auszumessen – die Brücke, über die ich so gern hatte gehen wollen.
(1999)
Übersetzt von Andreas Tretner
Viktor Pelewin –