Опубликовано в журнале Студия, номер 11, 2007
WARLAM SCHALAMOW
(1907-1982)
Die Verschwörung der Juristen
In die Brigade Schmeljow wurde menschliche Schlacke geschaufelt, die menschlichen Abfälle der Goldmine. Aus der └Grube“, in der └Sand“ gewonnen und aus der └Torf“ herausgeholt wurde, führten drei Wege: └Abkratzen“ und namenlos ins Massengrab, ins Krankenhaus oder in die Brigade Schmeljow. Drei Wege für Krepierlinge. Diese Brigade arbeitete da, wo auch die anderen arbeiteten, nur wurden ihr weniger wichtige Aufgaben übertragen. Die Losungen └Plane
rfüllung ist Gesetz“ und └Den Plan in die Köpfe der Häuer“ waren keine leeren Worte. Sie wurden so ausgelegt: Wer die Norm nicht erfüllt, verstößt gegen das Gesetz, betrügt den Staat und muss es mit zusätzlicher Haft oder gar dem eigenen Leben bezahlen.Schmeljows Leute bekamen schlechtere und weniger Nahrung. Aber ich hatte die hiesige Redewendung gut in Erinnerung: └Im Lager tötet die große Ration, nicht die kleine.“ Ich war nicht scharf auf die große Ration der └wichtigsten“ Schürfbrigaden.
Ich war erst vor kurzem zu Schmeljow versetzt worden, vor drei Wochen, und ich kannte sein Gesicht nicht – es war im tiefsten Winter, der Kopf des Brigadiers war malerisch mit einem zerrissenen Schal umwickelt, und am Abend war es dunkel in der Baracke, die Benzinlampe, die └Kolymka“, beleuchtete knapp die Tür. Ich erinnere mich nicht an das Gesicht des Brigadiers. Nur seine Stimme war eine heisere, erkältete Stimme.
Wir arbeiteten im Dezember in der Nachtschicht, und jede Nacht war eine Folter – fünfzig Grad Frost sind kein Pappenstiel. Dennoch war es nachts besser, ruhiger; weniger Natschalniks, weniger Fluchen, weniger Prügel.
Die Brigade trat an zum └Ausrücken“. Im Winter wurde in der Baracke angetreten, und diese letzten Minuten vor dem Abmarsch in eisige Nacht, in die zwölfstündige Schicht sind mir noch heute quälend in Erinnerung. Hier in diesem unschlüssigen Gedränge vor der angelehnten Tür, durch die frostiger Dampf hereinkroch, erwies sich der menschliche Charakter. Einer unterdrückte das Zittern und ging in die Dunkelheit hinein, ein anderer machte letzte hastige Züge an einem Machorkastummel, der keinen Geruch und keine Spur von Machorka enthielt, ein dritter beschirmte sein Gesicht vor dem kalten Wind, ein vierter stand am Ofen, hielt die Handschuhe darüber und sammelte Wärme hinein.
Der Stubendienst stieß die letzten zur Baracke hinaus. So war es in jeder Brigade der Schwächsten.
Mich hatten sie in dieser Brigade noch nicht hinausgestoßen. Hier waren noch Schwächere als ich, und das gab mir eine gewissen Beruhigung, eine Art plötzliche Freude. Hier war ich noch ein Mensch. Die Püffe und Faustschläge des Stubendienstes waren in der └Goldbrigade“ geblieben, von wo sie mich zu Schmeljow versetzt hatten.
Die Brigade stand in der Baracke an der Tür, bereit zum Abrücken. Schmeljow trat zu mir.
└Du bleibst zu Hause“, krächzte er.
└Wohl zur Frühschicht versetzt?“ sagte ich ungläubig. Aus einer Schicht in die andere versetzt wurde man nur entgegen dem Uhrzeiger, damit kein Arbeitstag verlorenging und der Häftling nicht ein paar Stunden zusätzliche Erholung bekam. Diese Mechanik kannte ich.
└Nein, du sollst zu Romanow kommen.“
└Romanow? Wer ist Romanow?“
└Sieh mal an, der Kerl kennt Romanow nicht“, warf der Stubendienst ein.
└Der Bevollmächtigte vom MWD,
* verstanden? Der wohnt kurz vor dem Büro. Um acht gehst du hin.“└Um acht!“
Das Gefühl größter Erleichterung erfasste mich. Wenn der Bevollmächtigte mich bis zwölf bei sich behielt, bis zum nächtlichen └Mittagessen“ und länger, hatte ich das Recht, heute nicht zur Arbeit zu gehen. Sofort spürte der Körper die Müdigkeit. Aber es war eine freudige Müdigkeit, die Muskeln begannen zu schmerzen.
Ich band den Gürtel auf, öffnete die Steppjacke und setzte mich an den Ofen. Sofort wurde mir warm, und die Läuse unter der Feldbluse kamen in Bewegung. Mit den abgekauten Fingernägeln kratzte ich Brust und Hals. Und schlummerte ein.
└Komm, komm“, sagte der Stubendienst und rüttelte mich an der Schulter. └Geh jetzt hin, bring was zu rauchen mit, vergiss es nicht.“
Ich klopfte an die Tür des Hauses, in dem der Bevollmächtigte wohnte. Riegel und Schlösser klirrten, viele Riegel und Schlösser, und ein Unsichtbarer rief hinter der Tür:
└Wer bist du?“
└Häftling Andrejew, herbestellt.“
Wieder polterten und klirrten Riegel und Schlösser, dann wurde
es still.Die Kälte kroch unter die Steppjacke, die Füße froren. Ich schlug die Beine aneinander, an denen wir keine Filzstiefel trugen, sondern Stepphosen, aus alten Hosen und Wattewesten genäht.
Wieder krachten Riegel, die Doppeltür ging auf und ließ Licht, Wärme und Musik heraus.
Ich trat ein. Die Tür vom Vorraum ins Esszimmer war nicht geschlossen, dort spielte ein Radio.
Der Bevollmächtigte Romanow stand vor mir. Richtiger gesagt, ich stand vor ihm, und er, kleingewachsen, nach Parfüm duftend, beweglich, hüpfte um mich herum und musterte mit seinen flinken schwarzen Augen meine Gestalt.
Der Häftlingsgeruch drang in seine Nase, er zog ein schneeweißes Taschentuch hervor und schüttelte es. Die Wellen der Musik, der Wärme und des Kölnisch Wassers erfassten mich. Vor allem die Wärme. Der Kachelofen war stark geheizt.
└Nun kennen wir uns“, ratterte Romanow begeistert, während er um mich herumging und das parfümierte Taschentuch schwenkte. └Nun kennen wir uns. Geh schon rein.“ Er öffnete die Tür in den Nebenraum, ein Arbeitszimmer mit Schreibtisch und zwei Stühlen.
└Setz dich. Nie und nimmer kommst du darauf, warum ich dich herbestellt habe. Rauche.“
Er wühlte in den Papieren auf dem Schreibtisch.
└Wie ist dein Vor- und Vatersname?“
Ich sagte es.
└Geburtsjahr?“
└1907.“
└Jurist?“
└Ich bin eigentlich kein Jurist, aber ich habe in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre an der juristischen Fakultät der Moskauer Universität studiert.“
└Also Jurist. Na großartig. Bleib hier sitzen, ich telefoniere, dann fahren wir lo
s.“Romanow schlüpfte aus dem Zimmer, gleich darauf wurde im Esszimmer die Musik ausgeschaltet, und das Telefongespräch begann.
Ich saß auf dem Stuhl und schlummerte ein. Ich hatte sogar einen Traum. Romanow verschwand ein paarmal und kam wieder herein.
└Hör zu. Hast du noch irgendwelche Sachen in der Baracke?“
└Ich habe alles bei mir.“
└Na großartig, wirklich, großartig. Gleich kommt der Wagen, dann fahren wir beide los. Weißt du, wohin? Das errätst du nie. Nach Chatynnach, in die Verwaltung! Schon mal dor
t gewesen? Na, das sollte ein Scherz sein.“└Mir ist alles egal.“
└Das ist gut.“
Ich zog die Schuhe aus, knetete die Zehen, wendete die Fußlappen.
Die Wanduhr zeigte halb zwölf. Selbst wenn das mit Chatynnach ein Scherz war, musste ich doch jedenfalls heut
e nicht mehr zur Arbeit.In der Nähe brummte ein Lastauto, das Scheinwerferlicht glitt über die Fensterläden und streifte die Zimmerdecke.
└Fahren wir, fahren wir.“
Romanow trug einen weißen Halbpelz, einen jakutischen Malachai und bestickte Fellstiefel.
Ich knöpfte die Steppjacke zu, zog den Gürtel straff und hielt die Hände über den Ofen.
Wir gingen zu dem Laster. Die Bordwand des Anderthalbtonners war heruntergeklappt.
└Wieviel Grad haben wir heute, Mischa?“ fragte Romanow den Fahrer.
└Sechzig, Genosse Bevollmächtigter. Die Nachtbrigaden wurden von der Arbeit zurückgeholt.“
Also war auch unsere Brigade Schmeljow zu Hause. Also war mein Glück doch nicht so groß.
└Na, Andrejew“, sagte der MWD-Bevollmächtigte, während er um mich herumsprang, └du steigst hinten auf. Es ist nicht weit. Und Mischa fährt möglichst schnell. Stimmt’s, Mischa?“
Mischa sagte nichts. Ich stieg auf die Pritsche, rollte mich zusammen und legte die Arme um die Beine. Romanow zwängte sich ins Fahrerhaus, und wir fuhren los.
Die Straße war scheußlich, und es rüttelte mich so durch, dass ich nicht erstarrte.
Ich hatte keine Lust, an etwas zu denken, und das war in der Kälte auch gar nicht nötig.
Nach gut zwei Stunden blinkten Lichter, und der Laster hielt vor einem einstöckigen Blockhaus. Es war überall dunkel, nur in einem Fenster des Obergeschosses brannte Licht. Zwei Posten im Schafpelz standen vor der breiten Vortreppe.
└So, da wären wir, ausgezeichnet. Er soll hier warten.“ Romanow verschwand auf der breiten Treppe.
Es war zwei Uhr nachts. Überall war das Licht gelöscht. Nur die Lampe am Tisch des Diensthabenden brannte.
Ich musste nicht lange warten. Romanow – er hatte sich umgezogen und trug jetzt die MWD-Uniform – kam die Treppe heruntergelaufen und fuchtelte mit den Armen.
└Hierher, hierher.“
Mit dem Stellvertreter des Diensthabenden gingen wir die Treppe hinauf und blieben im Korridor des Obergeschosses vor einer Tür stehen, sie trug ein Schildchen └Oberbevollmächtigter des MWD Smertin“ (Tod). Dieses unheildrohende Pseudonym (es war natürlich nicht der richtige Name) beeindruckte sogar mich, der ich grenzenlos müde war.
Ein bisschen zu dick für ein Pseudonym, dachte ich, aber ich musste schon eintreten, das große Zimmer mit dem Stalinbild über die ganze Wand durchqueren, vor dem gewalt
igen Schreibtisch stehen bleiben und das gelblichblasse Gesicht des Mannes betrachten, der sein ganzes Leben in solchen Zimmern wie diesem zugebracht hatte.Romanow beugte sich respektvoll über den Schreibtisch.
Die mattblauen Augen des Oberbevollmächtigte
n, Genossen Smertin, hefteten sich auf mich. Sie hafteten nicht lange, denn er suchte etwas auf dem Schreibtisch, kramte in Papieren. Romanows beflissene Finger fanden, was er suchte.└Nachname“ fragte Smertin und blickte in die Papiere.
└Vor- und Vatersnamen?“
└Artikel?“
└Haftdauer?“
Ich antwortete.
└Jurist?“
└Ja.“
Das blasse Gesicht blickte vom Schreibtisch auf.
└Du hast Beschwerden geschrieben?“
└Ja.“
Smertin schnaufte.
└Wegen Brot?“
└Auch, aber auch wegen anderem.“
└Gut. Abführen.“
Ich hatte keinen Versuch gemacht, etwas zu erklären oder zu fragen. Wozu? Ich war ja nicht in der Kälte, nicht auf der nächtlichen Goldmine. Mochten sie herausfinden, was sie wollten.
Der Stellvertreter des Diensthabenden kam mit einem Zettel, und nun wurde ich durch die nächtliche Siedlung geführt bis ans Ende, wo unter dem Schutz von vier Wachtürmen hinter einem dreifachen Stacheldrahtverhau der └Isolator“ lag, das Lagergefängnis.
Das Gefängnis hatte große Zellen, aber auch Einzelzellen. In eine dieser Einzelzellen wurde ich hineingestoßen. Ich erzählte von mir, ohne von den Nachbarn Antwort zu erwarten, ohne sie nach etwas zu fragen. So war es üblich, damit die anderen nicht dachten, ich wäre └eingeschleust“.
Der Morgen brach an, ein gewöhnlicher Wintermorgen der Kolyma, ohne Licht, ohne Sonne, zunächst von der Nacht nicht zu unterscheiden.
Es wurde gegen die Schiene geschlagen, und wir kriegten einen Eimer dampfendes Heißwasser. Ein Begleitposten kam mich holen, und ich verabschiedete mich von den Kameraden. Ich weiß rein gar nichts von ihnen.
Ich wurde zu demselben Haus geführt. Es kam mir jetzt kleiner vor als in der Nacht. Vor Smertins lichte Augen wurde ich nicht vorgelassen.
Der Diensthabende befahl mir, mich zu setzen und zu warten, und ich setzte mich und wartete, bis ich die wohlbekannte Stimme hörte:
└Na großartig! Großartig! Sie fahren jetzt gleich!“ Hier, auf fremdem Gelände, redete mich Romanow mit └Sie“ an.
Die Gedanken bewegten sich mühselig im Gehirn, fast physisch spürbar. Ich musste an etwas Neues denken, und daran war ich nicht gewöhnt, ich kenne nichts Neues. Dieses Neue hatte mit der Mine nichts zu tun. Wären wir nämlich auf unsere Mine └Partisan“ zurückgekehrt, so würde Romanow gesagt haben: └Gleich fahren wir.“ Also sollte ich woanders hingebracht werden. Mochte doch alles zum Teufel gehen!
Romanow kam fast springend die Treppe herunter. Es sah so aus, als würde er sich gleich aufs Geländer setzen und herabrutschen wie ein kleiner Junge. In der Hand hielt er ein fast ganzes Brot.
└Da haben Sie, für unterwegs. Und noch was.“ Er verschwand nach oben und kehrte mit zwei Heringen zurück.
└Ganz ordentlich, was? Das wär’s wohl. Ach ja, die Hauptsache habe ich vergessen, ich bin ja Nichtraucher.“
Romanow ging noch einmal nach oben und kam mit einer Zeitung zurück. Auf die Zeitung war Machorka geschüttet. Etwa drei Streichholzschachteln voll, taxierte ich mit geübtem Auge. Ein Päckchen Machorka enthielt acht Streichholzschachteln voll. Das war das Lagermaß.
└Da haben Sie, für unterwegs. Trockenverpflegung sozusagen.“
Ich schwieg.
└Sind die Begleitposten schon herbestellt?“
Der Diensthabende bejahte.
Schicken Sie mir den Postenführer rauf.“
Romanow verschwand auf der Treppe.
Die beiden Begleitposten kamen, der eine war etwas älter und pockennarbig, eine kaukasische Papa
cha auf dem Kopf, der andere jung, zwanzig vielleicht, rotwangig, mit einem Rotarmistenhelm.└Der da“, sagte der Diensthabende und zeigte auf mich.
Beide – der Junge und der Pockennarbige – musterten mich sehr aufmerksam von Kopf bis Fuß.
└Und wo ist der Chef?“ fragte der Pockennarbige.
└Oben. Auch der Umschlag ist dort.“
Der Pockennarbige lief die Treppe hinauf und kehrte bald mit Romanow zurück.
Sie sprachen halblaut, und der Pockennarbige zeigte auf mich.
└Gut“, sagte endlich Romanow. └Wir geben dir ein Papier.“
Wir gingen auf die Straße. Vor der Treppe, wo in der Nacht der Lastwagen von der Mine └Partisan“ gestanden hatte, wartete jetzt ein komfortabler Häftlingstransportwagen, ein Gefängnisautobus mit vergitterten Fenstern. Ich stieg ein. Die Gittertüre
n wurden geschlossen, die Begleitposten setzten sich in den Windfang, und der Wagen fuhr los.Eine Zeitlang ging es über die └Trasse“, die zentrale Chaussee, die das Kolyma-Gebiet mittendurch schneidet, doch dann bog der Bus zur Seite ab. Die Straße wand sich zwischen Bergen hindurch, der Motor keuchte auf den Steigungen, ich sah abschüssige Felsen mit vereinzelten Nadelbäumen und Weidenzweige im Rauhreif. Endlich, nach ein paar Biegungen um die Berge herum, fuhr der Bus durch ein Bachbett auf einen kleine
n freien Platz. Hier gab es eine Schneise und Wachtürme und weiter hinten, vielleicht dreihundert Meter entfernt, schiefe Türme und eine dunkle Barackengruppe hinter Stacheldraht.Die Tür eines kleinen Büdchens an der Straße öffnete sich, und heraus kam der
Diensthabende, einen Revolver am Koppel.Der Bus hielt, der Motor lief weiter.
Der Fahrer sprang heraus und kam an meinem Fenster vorüber.
Diesen Ort hier kannte ich, er sagte mir mehr als der unheildrohende Name Smertin. Das hier war die └Serpantinka“, das berüchtigte Untersuchungsgefängnis der Kolyma, wo im vorigen Jahr so viele Menschen umgebracht worden waren. Ihre Leichen waren noch nicht verwest. Sie würden nie verwesen, denn hier war der Boden ewig gefroren.
Mein Postenführer ging den Weg zum Gefängnis entlang, ich setzte mich am Fenster hin und dachte, nun hätte auch meine Stunde geschlagen, nun wäre ich an der Reihe. An den Tod zu denken war ebenso mühsam wie an etwas anderes. Ich malte mir keine Bilder meiner Erschießung aus. Ich saß und wartete.
Schon setzte die Winterdämmerung ein. Die Tür des Gefängnisbusses wurde geöffnet, und der Postenführer warf mir Filzstiefel zu. Ich saß und wartete.
└Zieh sie an! Zieh die Stepphose aus.“
Ich probierte die Stiefel an. Nein, sie passten nicht, sie waren zu klein.
└In der Stepphose schaffst du’s nicht bis hin“, sagte der Pockennarbige.
└Doch, ich schaff’s.“
Der Pockennarbige warf die Filzstiefel in eine Ecke des Busses.
└Fahren wir!“
Der Bus wendete und fuhr mit hohem Tempo weg von der └Serpentinka“.
Bald erkannte ich an den vorüberhuschenden Fahrzeugen, dass wir wieder auf der └Trasse“ waren.
Der Bus fuhr langsamer – ringsum brannten die Lichter einer großen Siedlung. Der Bus rollte zur Vortreppe eines beleuchteten Hauses, und ich betrat einen hellen Korridor, sehr ähnlich dem, wo der MWD-Oberbevollmächtigte Smertin Hausherr war. Hinter einer Holzbarriere saß beim Wandtelefon der Diensthabende mit der Pistole am Koppel. Dies war die Siedlung Jagodny. Am ersten Reisetag hatten wir nur siebzehn Kilometer zurückgelegt. Wohin würde es weiter gehen?
Der Diensthabende führte mich in ein hinteres Zimmer. Dieses war der Karzer mit Pritsche, Wassereimer und Kübel. Die Tür hatte ein Guckloch.
Hier verbrachte ich zwei Tage. Ich konnte sogar die Binden von meinen Beinen trocknen und neu wickeln – meine Beine waren voller eiternder Skorbutgeschwüre.
Im Hause der MWD-Kreisabteilung herrschte eine Krähwinkelstille. Ich horchte angespannt aus meinem Winkel. Selbst tagsüber ging kaum einmal jemand den Korridor entlang. Die Eingangstür öffnete sich selten, und selten wurden Schlüssel herumgedreht. Der ständige Diensthabende, unrasiert, in einer alten Steppjacke, alles sah krähwinkelhaft aus, verglichen mit dem glänzenden Chatynnach, wo der Genosse Smertin hohe Politik machte. Das Telefon läutete sehr selten.
└Ja. Sie tanken. Ja. Ich weiß nicht, Genosse Natschalnik.“
└Gut, ich richt’s ihnen aus.“
Von wem war die Rede? Von meinem Begleitposten? Einmal am Tag, gegen Abend, ging meine Zellentür auf, und der Diensthabende brachte mir einen Napf Suppe und ein Stück Brot. └Iss!“ Das war mein Mittagessen. Volkseigen. Ich bekam auch einen Löffel. Der zweite Gang war mit dem ersten vermischt, war in die Suppe gekippt.
Ich nahm den Napf, aß und leckte nach Minengewohnheit den Boden blank.
Am dritten Tag ging die Tür auf, und der pockennarbige Soldat, der über dem Halbpelz einen Fellmantel trug, trat über die Karzerschwelle.
└Na, ausgeruht? Wir fahren.“
Ich stand auf der Vortreppe und dachte, wir würden wieder mit dem └gewärmten“ Gefängnisbus fahren, doch der war nirgends zu sehen. An der Vortreppe stand ein gewöhnlicher Dreitonner.
└Steig auf.“
Gehorsam wälzte ich mich über die Bordwand.
Der junge Soldat kletterte ins Fahrerhaus. Der Pockennarbige saß neben mir. Der Wagen fuhr an, und nach ein p
aar Minuten waren wir wieder auf der └Trasse“.Wohin brachten sie mich? Nach Norden oder nach Süden? Nach Westen oder Osten?
Zu fragen brauchte ich nicht, und der Posten durfte gar nicht reden.
Ob ich auf einen anderen Abschnitt überstellt wurde? Auf welch
en?Der Lastwagen rüttelte viele Stunden lang und blieb plötzlich stehen.
└Hier werden wir Mittag essen. Steig ab.“
Ich stieg ab.
Wir gingen in die └Trassenkantine“.
Die └Trasse“ ist die Arterie, der Hauptnerv von Kolyma. In beiden Richtungen wurden pausenlos technische Güter ohne Bewachung, Lebensmittel dagegen mit Begleitposten transportiert, denn es konnten ja Flüchtlinge die Fahrzeuge angreifen und plündern. Der Fahrer und der Versorgungsagent waren als Bewacher zwar unzuverlässig, dennoch bildeten sie einen gewissen Schutz, der Diebstählen vorbeugen konnte.
In der └Trassenkantine“ trafen sich Geologen, Erkunder von Schürfgruppen, die mit dem verdienten großen Geld in Urlaub fuhren, illegale Verkäufer von Tabak und Tschifir, Helden des Nordens und Schurken des Nordens. In den Kantinen gab’s immer Sprit zu kaufen. Die Männer trafen sich, stritten, prügelten sich, tauschten Neuigkeiten und hatten es eilig, eilig … Laster blieben mit laufendem Motor stehen, die Leute legten sich im Fahrerhaus zwei oder drei Stunden schlafen, um sich auszuruhen und weiterzufahren. Hier wurden auch Häftlingsgruppen transportiert, pieksauber, wenn es hinaufging in die Taiga, und als schmutziger Abfallhaufen, wenn sie von dort zurückkehrten. Hier gab es auch einen Fahnder vom MWD, die hinter Flüchtlingen her waren. Und auch Flüchtlinge – häufig in Militäruniform. Hierher kamen Natschalniks im SIS – Herren über Leben und Tod aller dieser Menschen. Ein Dramatiker müsste den Norden in einer └Trassenkantine“ darstellen. Sie ist eine vorzügliche Szenerie.
Hier stand ich, bemüht, möglichst nahe an den Ofen heranzukommen, ein mächtiges Metallfass, rotglühend. Die Begleitposten waren nicht sonderlich besorgt, ich könnte fliehen, ich war ja viel zu schwach, und das war deutlich zu sehen. Jeder wusste, dass ein Krepierling bei fünfzig Grad Frost nicht fliehen konnte.
└Setz dich hin, iss.“
Der Posten kaufte mir einen Teller heiße Suppe und gab mir Brot.
└Gleich fahren wir weiter“, sagte der Junge. └Wenn der Postenführer kommt, geht’s los.“
Aber der Pockennarbige kam nicht allein. In seiner Begleitung war ein nicht mehr junger └Kämpfer“ (sie wurden damals noch nicht Soldaten genannt) im Halbpelz, ein Gewehr über der Schulter.
Er sah mich an und dann den Pockennarbigen.
└Warum nicht, von mir aus“, sagte er.
└Komm“, sagte der Pockennarbige zu mir.
Wir gingen in eine andere Ecke der riesigen Kantine. Dort an der Wand saß zusammengesunken ein Mann in Steppjacke, auf dem Kopf eine Bamlagermütze,
* eine schwarze Flanellmütze mit Ohrenklappen.└Setz dich da hin“, sagte der Pockennarbige zu mir.
Gehorsam setzte ich mich neben dem Mann auf den Fußboden. Er wandte nicht den Kopf.
Der Pockennarbige und der fremde Kämpfer gingen. Mein junger Begleitposten blieb bei uns.
└Sie verschaffen sich eine Ruhepause, verstehst du?“ flüsterte mir plötzlich der Mann mit der Häftlingsmütze zu. └Dazu haben sie kein Recht.“
└Ja, krepieren sollen sie“, sagte ich. └Die können machen, was sie wollen. Was schert es dich, wird dir davon schlecht?“
Der Mann hob den Kopf.
└Ich sag dir, sie haben kein Recht.“
└Wo bringen sie uns hin?“ fragte ich.
└Wohin sie dich bringen, weiß ich nicht, mich bringen sie nach Magadan. Zur Erschießung.“
└Zur Erschießung?“
└Ja. Ich bin verurteilt. Ich komme von der Verwaltung West. Aus Susuman.“
Das gefiel mir überhaupt nicht. Aber ich kannte ja nicht die └Ordnung“, die Prozedurordnung bei der └Höchststrafe“.
Ich schwieg verlegen.
Der pockennarbige Kämpfer kam mit unserem neuen Begleiter zu uns.
Sie unterhielten sich. Kaum dass es mehr Posten waren, wurden sie schärfer, gröber. Mir wurde in keiner Kantine mehr Suppe gekauft.
Wir fuhren noch ein paar Stunden, und in einer Kantine wurden noch drei Mann zu uns gebracht – nun waren wir schon eine bedeutende └Etappe“ oder └Partie“.
Die drei Neuen waren von ungewissem Alter wie alle Krepierlinge der Kolyma: die verquollene weiße Haut und die gedunsenen Gesichter deuteten auf Hunger und Skorbut. Die Gesichter hatten Erfrierungsflecke.
└Wo werdet ihr hingebracht?“
└Nach Magadan. Zur Erschießung. Wir sind verurtei
lt.“Wir lagen auf der Pritsche des Dreitonners, zusammengekauert, die Gesichter auf den Knien, die Rücken aneinandergelehnt. Der Dreitonner war gut gefedert, die └Trasse“ war eine vorzügliche Straße, wir wurden fast überhaupt nicht durchgerüttelt – und wir erfroren allmählich.
Wir schrien, stöhnten, aber die Posten waren unerbittlich. Wir mussten noch bei Tageslicht Sporny erreichen.
Der zur Erschießung Verurteilte flehte darum, sich wenigstens fünf Minuten └aufwärmen“ zu dürfen.
Der Laster fuhr in hohem Tempo in Sporny ein, als schon die Lichter brannten.
Der Pockennarbige kam.
└Ihr werdet zur Nacht ins Lagergefängnis gebracht, und am Morgen geht es weiter.“
Ich war bis auf die Knochen durchgefroren, ich war steif vor Kälte und stampfte aus letzter Kraft im Schnee. Ich wurde nicht warm. Die Kämpfer suchten noch immer die Lagerleitung. Endlich, nach einer Stunde, wurden wir in das eisige, ungeheizte Lagergefängnis gebracht. Die Wände waren voller Reif, der Erdboden war vereist. Jemand brachte einen Eimer Wa
sser. Das Schloss klirrte. Brennholz? Ofen?In dieser Nacht in Sporny erfror ich mir wieder alle zehn Zehen, und ich versuchte vergeblich, wenigstens für einen Moment einzuschlafen.
Berge huschten vorüber, entgegenkommende Fahrzeuge keuchten.
Der Lastwagen fuhr vom Pass abwärts, und uns wurde so warm, dass wir nirgends mehr hinfahren wollten, sondern lieber warten und wenigstens ein Weilchen auf dieser wundervollen Erde herumgehen.
Der Unterschied betrug mindestens zehn Grad. Auch der Wind war irgendwie warm, beinahe frühlingshaft.
└Posten! Austreten!“ Wie sollten wir sonst den Kämpfern erzählen, dass wir uns freuten über die Wärme, den Südwind, die Befreiung von der die Seele vereisenden Taiga.
└Na los, steigt aus!“
Den Posten war es auch angenehm, sich die Beine zu vertreten, zu rauchen. Mein Gerechtigkeitssucher trat schon an einen der Posten heran.
└Rauchen wir, Bürger Kämpfer?“
└Wir rauchen. Geh auf deinen Platz.“
Einer der Neuen wollte nicht vom Wagen absteigen. Als er jedoch sah, dass sich das └Austreten“ hinzog, kam er an die Bordwand und winkte mir.
└Hilf mir runter.“
Ich streckte ihm die Hände hin und fühlte, selbst kraftloser Krepierling, wie ungewöhnlich leicht sein Körper war, eine tödliche Leichtigkeit. Ich ging beiseite. Der Mann hielt sich mit den Händen an der Bordwand fest und machte ein paar Schritte.
└Wie warm.“ Aber seine Augen waren trüb und ohne jeden Ausdruck.
└Na los, wir fahren weiter. Dreißig Grad.“
Es wurde von Stunde zu Stunde wärmer.
In der Kantine der Siedlung Palatka aßen unsere Posten das letzte Mal zu Mittag. Der Pockennarbige kaufte mir ein Kilo Brot.
└Hier hast du Weißbrot. Abends sind wir da.“
Es schneite sacht, als weit drunten die Lichter von Magadan in Sicht kamen. Zehn Grad. Windstill. Der Schnee fiel fast senkrecht in winzigen, winzigen Flocken.
Der Lastwagen hielt vor der MWD-Kreisabteilung. Die Posten gingen ins Haus.
Heraus kam ein Mann in Zivil ohne Mütze. In der Hand hielt er einen aufgerissenen Umschlag.
Er rief einen Namen, geübt, schallend. Der Mann mit dem leichten Körper kroch auf sein Zeichen beiseite.
└Ins Gefängnis!“
Der Mann im Anzug verschwand im Gebäude und kam gleich wieder heraus.
In seiner Hand war ein neuer Umschlag.
└Iwanow?“
└Konstantin Iwanowitsch.“
└Ins Gefängnis!“
└Ugrizki, Sergej Fjodorowitsch!“
└Ins Gefängnis!“
└Simonow, Jewgeni Petrowitsch!“
“Ins Gefängnis”
Ich verabschiedete mich weder von dem Posten noch von den Männern, die mit mir nach Magadan gefahren waren. Das war nicht üblich.
Auf der Vortreppe der MWD-Kreisleitung stand nur noch ich mit meinem Posten.
Der Mann im Anzug erschien mit einem Umschlag auf der Vortreppe.
└Andrejew!“
└In die Kreisabteilung! Gleich bring ich euch die Quittung“, sagte der Mann zu meinem Posten.
Ich ging ins Haus. Als erstes – wo war der Ofen? Da – ein Zentralheizungskörper. Der Diensthabende hinter der Holzbarriere. Das Telefon. Ärmlicher als beim Genossen Smertin in Chatynnach. Vielleicht weil seins das erste solche Arbeitszimmer war, das ich in meinem Leben in der Kolyma zu sehen bekam?
Eine steile Treppe führt im Korridor hinauf in den ersten Stock.
Ich musste nicht lange warten. Von oben stieg der Mann im Anzug die Treppe herab, der uns draußen empfangen hatte.
└Kommen Sie.“
Wir stiegen die schmale Treppe hinauf in den ersten Stock und kamen zu einer Tür mit der Aufschrift: └J. Atlas, Oberbevollmächtigter“.
└Setzen Sie sich.“
Ich setzte mich. In dem winzigen Zimmer nahm der Schreibtisch den meisten Platz ein. Papiere, Aktendeckel, irgendwelche Listen.
Atlas war achtunddreißig bis vierzig Jahre alt. Ein beleibter Mann, schwarzhaarig, schon etwas kahlköpfig.
└Name?“
└Andrejew.“
└Vor- und Vatersname, Artikel, Haftdauer?“
Ich antwortete.
└Jurist?“
└Ja.“
Atlas sprang auf und ging um den Schreibtisch herum. └Großartig.“
└Hauptmann Rebrow wird mit Ihnen sprechen!“
└Wer ist Hauptmann Rebrow?“
└Der Natschalnik der geheimen Politabteilung. Gehen Sie hinunter.“
Ich kehrte zu meinem Platz am Heizkörper zurück. Nachdem ich die Neuigkeiten bedacht hatte, beschloss ich, das Kilo Weißbrot, das mit der Posten gegeben hatte, rechtzeitig aufzuessen. Ein Wasserkessel mit daran gekettetem Becher war vorhanden. Die Wanduhr tickte gleichmäßig. Im Halbschlaf hörte ich, wie jemand an mir vorbei mit raschen Schritten nach oben ging. Der Diensthabende weckte mich.
└Zu Hauptmann Rebrow.“
Ich wurde in den ersten Stock geführt. Die Tür eines kleinen Zimmers wurde geöffnet, und ich hörte eine scharfe Stimme:
└Herein, herein!“
Ein ungewöhnliches Arbeitszimmer, etwas größer als das, in dem ich vor zwei Stunden gewesen war. Die gläsernen Augen Hauptmann Rebrows waren auf mich gerichtet. Auf der Ecke des Schreibtischs stand ein halbvolles Glas Tee mit Zitrone auf einer Untertasse, daneben lag eine abgeknabberte Käserinde. Telefone. Aktendeckel. Porträts.
└Name?“
└Andrejew.“
└Vor- und Vatersname? Artikel? Haftdauer? Jurist?“
└Ja.“
Hauptmann Rebrow beugte ich über den Schreibtisch, näherte mir seine gläsernen Augen und fragte:
└Kennen Sie Parfjontjew?“
└Ja, den kenne ich.“
Parfjontjew war in der Schürfbrigade mein Brigadier gewesen, bevor ich in die Brigade Schmeljow kam. Von Parfjontjew war ich zunächst in die Brigade Poturajew gekommen und dann zu Schmeljow. Bei Parfjontjew hatte ich mehrere Monate gearbeitet.
└Ja. Ich kenn ihn, er war mein Brigadier, Dmitri Timofejewitsch Parfjontjew.“
└Ja. Gut. Also Sie kennen Parfjontjew?“
└Ja, ich kenne ihn.“
└Und kennen Sie Winogradow?“
└Winogradow kenne ich nicht.“
└Winogradow, den Vorsitzenden des Fernostregionsgerichts?“
└Kenn ich nicht!“
Hauptmann Rebrow zündete sich eine Papirossa an, nahm einen tiefen Zug und sa
h mich weiterhin gedankenverloren an.Er drückte die Papirossa auf der Untertasse aus.
└Also, du kennst Winogradow, und Parfjontjew kennst du nicht?“
└Umgekehrt! Winogradow kenn ich nicht.“
└Ach ja. Du kennst Parfjontjew, und Winogradow kennst du nicht. Na, von mir aus.“
Hauptmann Rebrow drückte den Klingelknopf. Die Tür hinter mir öffnete sich.
└Ins Gefängnis.“
Die Untertasse mit der ausgedrückten Papirossa und die Käserinde blieben im Arbeitszimmer des Natschalniks auf dem Schreibtisch zurück, rechts, neb
en der Wasserkaraffe.Tief in der Nacht führte mich ein Begleitposten durch das schlafende Magadan.
└Geh schneller.“
└Ich hab’s nicht eilig.“
└Widerspenstig!“ Der Kämpfer zog die Pistole. └Ich knall dich ab wie einen Hund. Du bist leicht abzuschreiben.“
└Kaum“, antwortete ich. └Du musst es vor Hauptmann Rebrow verantworten.“
└Geh, du Mistkerl!“
Magadan war eine kleine Stadt. Bald erreichten wir das └Waskow-Haus“, so hieß das hiesige Gefängnis. Waskow war der Stellvertreter von Bersin gewesen, als Magadan gebaut wurde. Das hölzerne Gefängnis war eines der ersten Gebäude von Magadan. Es trug noch immer den Namen des Mannes, der es gebaut hatte. In Magadan war längst ein steinernes Gefängnis errichtet worden, aber auch dieses neue, └gutgebaute“ Haus nach dem l
etzten Schrei der Bestrafungstechnik hieß └Waskow-Haus“.Nach kurzen Verhandlungen in der Wache musste ich hinunter in den Hof des └Waskow-Hauses“. Das niedrige, ebenerdige, langgestreckte Gefängnisgebäude war aus glatten, schweren Lärchenstämmen gebaut. Quer über den Hof gab es zwei └Zellen“, hölzerne Gebäude.
└In die zweite“, sagte eine Stimme von hinten.
Ich fasste nach dem Türgriff, öffnete und ging hinein.
Doppelpritschen voller Menschen. Aber nicht eng, nicht gedrängt. Die blanke Erde als Fußboden. Der Ofen war eine halbe Metalltonne auf langen eisernen Beinen. Es roch nach Schweiß, Lysol und schmutzigen Körpern.
Ich kletterte mühsam nach oben, wo es doch etwas wärmer war, und schlüpfte auf einen freien Platz.
Mein Nachbar erwachte.
└Aus der Taiga?“
└Ja.“
└Mit Läusen?“
└Ja.“
└Dann leg dich da in die Ecke. Wir haben hier keine Läuse. Es gibt ab und zu eine Desinfektion.“
Desinfektion, das ist gut, dachte ich. Aber Hauptsache, es ist warm.
Am Morgen gab es zu essen. Brot und warmes Wasser. Mir stand Brot noch nicht zu. Ich zog die Steppstiefel aus, legte sie unter meinen Kopf, ließ die Wattehose etwas herunter, damit die Füße es warm hatten, schlief ein und erwachte nach vierundzwanzig Stunden, als eben das Brot ausgegeben wurde; ich stand nun schon auf der Verpflegungsliste des └Waskow-Hauses“,
Zu Mittag gab es dünne Mehlsuppe und drei Löffel Griesbrei. Ich schlief bis zum Morgen des nächsten Tages, bis zu dem Moment, als die wilde Stimme des Diensthabenden mich weckte.
└Andrejew! Andrejew! Wo ist Andrejew?“
Ich stieg von der Pritsche.
└Hier.“
└Raus in den Hof, zu der Treppe da.“
Die Tür des eigentlichen └Waskow-Hauses“ öffnete sich vor mir, und ich betrat einen niedrigen, trüb beleuchteten Korridor. Der Aufseher sperrte ein Schloss auf, schob den massiven Eisenriegel zurück und öffnete eine winzige Zelle mit Doppelpritschen. Zwei Männer saßen gebückt in einer Ecke der unteren Pritsche.
Ich ging zum Fenster und setzte mich.
Jemand rüttelte mich an der Schulter. Es war mein Brigadier von der Mine, Dmitri Timof
ejewitsch Parfjontjew.└Verstehst du das?“
└Ich verstehe gar nichts.“
└Wann haben sie dich hergebracht?“
└Vor drei Tagen. Atlas hat mich mit dem Pkw hergebracht.“
└Atlas? Der hat mich in der MWD-Kreisleitung verhört. Um die Vierzig, Kahlkopf, Zivil.“
└Als er mich herbrachte, war er in Uniform.“
└Wonach hat Hauptmann Rebrow dich gefragt?“
└Ob ich Winogradow kenne.“
└Und?“
└Woher soll ich den kennen?“
└Winogradow ist der Vorsitzende des Fernostregionsgerichts.“
└Du weißt das, ich nicht, ich weiß nicht, wer Wi
nogradow ist.“└Ich habe mit ihm studiert.“
Allmählich ging mir ein Licht auf. Parfjontjew war vor seiner Verhaftung Gebietsstaatsanwalt in Tscheljabinsk und Staatsanwalt von Karelien gewesen. Als Winogradow durch das └Partisangelände“ kam und erfuhr, dass sein Kommilitone auf der Mine war, gab er ihm Geld und bat Anissimow, den Natschalnik vom └Partisan“, Parfjontjew zu helfen. Parfjontjew wurde als Hammerschwinger in die Schmiede versetzt. Anissimow meldete Winogradows Bitte dem MWD, Smertin, dieser leitete die Information weiter nach Magadan, an Hauptmann Rebrow, und der Natschalnik der geheimen Politabteilung ging daran, einen Fall Winogradow auszuarbeiten. Sämtliche gefangenen ehemaligen Juristen auf den Minen des Nordens wurden verhaftet. Alles weiter
e war Sache der Untersuchungstechnik.└Wozu sind wir hier? Ich war in der Zelle …“
└Sie werden uns rauslassen, du Dummkopf“, sagte Parfjontjew.
└Rauslassen? In die Freiheit? Das heißt, nicht in die Freiheit, sondern ins Durchgangsgefängnis, auf Transport.
“└Ja“, sagte der dritte, kroch ans Licht und musterte mich mit sichtlicher Verachtung.
Eine vollgefressene rosige Visage. Bekleidet war der Mann mit einer schwarzen Pelzjoppe, sein Zephirhemd stand offen und gab die Brust frei.
└Was, ihr kennt euch? Dann hat es Hauptmann Rebrow nicht geschafft, euch zu erwürgen. Volksfeinde …“
└Und du bist wohl ein Volksfreund?“
└Ja, zumindest kein Politischer. Ich habe keine Rhomben getragen. Ich habe arbeitende Menschen nicht verhöhnt. Wegen solcher wie euch sperren si
e unsereins ein.“└Krimineller, was?“ sagte ich.
└Für den einen Krimineller, für den andern Schneider.“
└Hört doch auf“, trat Parfjontjew für mich ein.
└Lump! Ich kann das nicht leiden.“
Die Tür dröhnte.
└Raus!“
Vor der Wache standen sieben Mann. Parfjontjew und ich traten zu ihnen.
└Ihr seid wohl auch Juristen?“ fragte Parfjontjew.
└Ja! Ja!“
└Was ist denn passiert? Warum lassen sie uns raus?“
└Hauptmann Rebrow ist verhaftet worden. Es erging Befehl, alle freizulassen, die auf seine Veranlassung eingesperrt wurden“, sagte halblaut ein Alleswisser.
1962
Übersetzt von Thomas Reschke