Опубликовано в журнале Студия, номер 9, 2005
– Brot!? – sagt die Mutter. – Wenn das Brot sein soll! Es ist ja kein Brot, reine Seife.
– Kann man denn Seife essen? – frage ich.
– Natürlich nicht, was für ein Unsinn!
– Warum?
– Was heißt warum? Darum,
weil Seife nicht essbar ist.– Was passiert denn, wenn man etwas nicht Essbares gegessen hat.
– Du stirbst.
– Wie denn?
– Herrgott – wie denn? Du stirbst und das war’s.
– Und was kommt danach?
– Danach kommt nichts!
– Nichts!? Gar nichts?
– Gar nichts.
Wenn man so einfach sterben könnte und danach wirklich nichts kommt, warum stirbt da niemand. Warum die Qual, wozu dann noch leben. Sie belügt mich wahrscheinlich. Versuchen könnte man es ja trotzdem… Zu Hause haben wir ein Stück Seife in der Seifenschale über dem Waschbecken.
Ich warte bis alle die Küche verlassen haben und beiße in den grauen glitschigen Rand. Jetzt verstehe ich, warum man sie nicht isst – sie ist ekelhaft. Trotzdem werde ich sie essen. Ich werde sie essen und sterben. Und danach kommt nichts. Nichts… Gar nichts. Und das ist gut so. Nein, ein ganzes Stück schaffe ich nie. Vermutlich, werde ich ja auch so sterben. Ich habe schon ziemlich viel davon gegessen…
– Elisaweta Nikolaewna, meine Liebe! Ach, schauen Sie sich das bloß mal an – sehen Sie? Elisaweta Nikolaewna schaut hin ohne zu begreifen, wieso meine Mutter sie auf ein Stück Seife aufmerksam machen will. Ich aber verstehe sehr wohl – meine Mutter will zeigen, dass eine ganze Seifenhälfte fehlt.
– Ich, dumme Kuh! Was für eine dumme Kuh bin ich! – sagt die Mutter. – Noch dümmer hätte ich ja gar nicht sein können – ich habe ein ganz neues Stück Seife hingelegt. Aber wer hätte denken können…
Schade, dass ich nicht gestorben bin. Jetzt kriege ich wegen dieser Seife Dresche. Aber warum hat sie mich belügen müssen?
– Als ob eine Ratte daran genagt hätte, – sagt Elisaweta Nikolaewna.
– Nein, keine Ratte, sondern unsere liebe Nachbarin! Und nicht mal hier kann sie es sich verkneifen, sich fremder Sachen zu bedienen. Na, überlegen Sie mal – eine ganze Hälfte ist weg!
– Na, sagen Sie es ihr doch.
– Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst! Dass die mich noch zur Sau macht!? Nein, viel reden bringt hier nichts – ich hätte es verstecken sollen. Das habe ich aber nicht getan – selber schuld. Das soll uns,
den Dummen, eine Lehre sein.Ein paar Mädchen spielen mit Puppen auf dem Hof. Sie haben einen großen Karton, der ihnen als Zimmer dient, in dem sie einen kleinen Tisch und kleine Stühle haben. Ich bleibe stehen und sehe zu.
– Schaut her, die Bettlerin ist gekommen! – ruft Nina.
– Was hast du hier zu suchen!? Zieh Leine! – sagt Walja.
Ich rühre mich nicht von der Stelle.
– Bettlerin, du, lausiges Luder! – rufen sie.
– Sie ist keine Bettlerin, – setzt sich Marina für mich ein.
– Bettlerin, Bettlerin, – sagt Walja. – Ihre Mutter, ich habe es selbst gesehen, zieht von Tür zu Tür und bettelt!
– Guckt mal, was sie für ein Kleid anhat! – stimmt Nina ein. – Wenn ich solch ein Kleid hätte, würde ich lieber die ganze Zeit zu Hause bleiben.
– Selbst unser Waschlappen ist besser!
– Wisst ihr noch, wie ihr Pelzmantel ausgesehen hat!
– Pelzmantel!? – lacht Nina. – Dieser Fetzen!? Wir würden so was höchstens als Fußabtreter benutzen!
– Ach, Mädels! – sagt Walja. – Bei uns auf dem Dorf steht eine Vogelscheuche im Garten – die ist viel hübscher!
– Ihre Arme sehen ja aus, wie die Stöcke von der Vogelscheuche! – setzt Nina gleich hinzu.
Ich gehe weg. Ist nicht schlimm… Irgendwann mal später, wenn ich groß und stark bin, werde ich Walja und Nina in einen Käfig sperren. Alle würden stehen bleiben, sie anschauen und auslachen. Da können sie mich lange bitten– ich werde sie trotzdem nicht rauslassen.
– Was ist denn dass? Was machst du? Warum kratzt du dich? – fragt die Mutter.
Ich habe auf dem ganzen Körper, hier und da, irgendw
elche rote Pickel.– Das hat mir gerade noch gefehlt! – sagt die Mutter. – Hast dich irgendwo angesteckt! Kein Wunder – läufst ewig mit schmutzigen Händen herum! Runter vom Bett! Das fehlt mir nur noch, dass ich mich anstecke!
Sie breitet irgendeinen Lappen auf dem Boden aus.
– Du schläfst hier! Nächstes Mal mußt du eben besser zuhören, was man dir sagt.
Ich kann nicht einschlafen. Ich liege da und starre auf den braunen Streifen, der die orangene Wand von der weißen Decke trennt. Wenn man sehr lange hinguckt, dann fängt der Streifen an zu schaukeln – rauf und runter, rauf und runter… Die Schwünge werden immer größer… Ich mache die Augen zu. Ich mache sie wieder auf – der Streifen fliegt über die ganze Wand.
Der Kopf tut weh… Schon wieder rollen diese Kugeln über meinen Körper. Deswegen muss ich mich kratzen – wegen deren stacheligen Seiten… Sie kleben, reiben die Haut auf und drücken…
– Na, klar! Schon wieder Fieber! – sagt die Mutter entrüstet. – Man redet sich den Mund fusselig – als ob man gegen eine Wand redet! Es hat ja alles keinen Sinn, null Reaktion, alles für die Katz. Die Füße sind ständig nass, die Hände – ständig dreckig! Treibt sich ständig rum, weiß der Teufel wo!
Ständig… Was für ein rauhes, ekliges Wort… Ich habe schreckliche Kopfschmerzen… Hört sie denn niemals auf!? Sie soll endlich mal still sein…
Ich liege wieder auf dem Bett und daneben sitzt eine Ärztin.
Ich werde Ihnen Ichthyolsalbe verschreiben, – sagt sie zur Mutter. – Damit können Sie die Kleine einsalben. Und unbedingt Obst und Gemüse geben.
– Aber Frau Doktor! – erschreckt sich die Mutter. Welches Obst und Gemüse? Wo soll ich das denn hernehmen?
– Wenigstens müssen Sie ihr Speisehefe geben. Sie hat Anämie und Avitaminose.
– Anämie? – sagt die Mutter entsetzt. – Und
davon kriegt man Pickel? Ist ja was ganz neues…– Es sind keine Pickel, es ist Furunkulose.
– Mein Gott, und ich dachte, das kommt vom Dreck!
– Kann auch vom Dreck kommen, – sagt die Ärztin.
– Und wo soll die Hefe hernehmen?
– Geben Sie sich Mühe, sie werden sie schon finden. Also wirklich, Sie wohnen in so einem Haus und können keine Hefe finden!?
– Was hat denn das Haus damit zu tun? – wundert sich die Mutter. – Natürlich, einige hier haben Beziehungen, ich weiß schon. Aber ich kann so was überhaupt ni
cht… Ich habe meine Mutter in Minsk, die zugrunde geht und ich kann sie da nicht rausholen.– Lassen Sie das mit Ihrer Mutter, Sie müssen jetzt an das Kind denken, – sagt die Ärztin. Sie müsste öfters in der Sonne sein. Hat jemand von den Nachbarn einen
Balkon?– Wir haben einen in der Küche…
– Sehr gut. Sie werden sie täglich für eine halbe Stunde auf den Balkon setzen. Außerdem werde ich Ihnen noch eine Mixtur verschreiben, damit können Sie ihr die Augen abtupfen.
– Was bringt das schon, – sagt die Mutter, – wenn sie sich die Augen ständig mit den dreckigen Händen reibt.
– Wenn es nicht mehr juckt, hört sie auch auf zu reiben. – Die Ärztin macht ihr Köfferchen zu und steht auf. – Ich schau morgen vorbei, wie es ihr geht.
– Danke, Frau Doktor, – sagt die Mutter mit beleidigter Stimme.
– Pawel ist mein zweiter Ehemann, – erzählt die Mutter der Tante Lera.
Sie sitzen am Tisch und glauben wahrscheinlich, dass ich schlafe. Aber ich schlafe nicht.
– Um ganz ehrlich zu sein, ich war auf diese Ehe nicht besonders versessen, – erklärt die Mutter. Sehen Sie, allein der Altersunterschied… Nicht, dass ich mich davor schrecken würde, aber es ist doch üblicher, dass der Mann älter ist als die Frau und nicht umgekehrt… Was soll ich Ihnen sagen, er war hoffnungslos in mich verliebt, verlangte die ganze Zeit, dass wir heiraten. Ich konnte mich lange nicht dazu entschließen, aber letzten Endes… Man kann das nicht mit ein paar Worten erzählen… Ich bereue es natürlich nicht, er ist bei weitem interessanter als der andere, der erste – als Mensch und Mann. Und um vieles jünger… Stellen Sie sich mal vor, der andere hieß auch Pawel. Nur dass dieser Pawel Alexandrowitsch heißt und der andere war Pawel Nikolaewitsch. Pawel Nikolaewitsch Pachomow. Er hatte schon seine vierzig Jahre auf dem Buckel als ich ihn heiratete. Er hatte eine Tochter, die praktisch das gleiche Alter hatte wie ich. Sie starb zwei Jahre später. Sie war eine recht attraktive junge Dame, eine Ballerina. Bei einer Operation ist was schief gelaufen…
– Und Ihr Mann? – fragt Lera Sergeewna.
– Mein Mann? – wiederholt die Mutter.
– Na, der erste Mann. Was ist mit ihm, ist er auch gestorben?
– Der Pachomow? Na, wir haben uns scheiden lassen. Im Jahre 1928. Ich habe ihn doch ohne einen Hauch von Liebe geheiratet. Er muss in seiner Jugendzeit ein attraktiver junger Mann gewesen sein –den Bildern nach zu urteilen. Als ich ihn kennen gelernt habe, war davon nichts mehr übrig – er hatte einen Bauch, eine Glatze…
– Warum haben Sie ihn dann geheiratet?
– Was hätte ich denn machen sollen? Lera Sergeewna, meine Liebe, ich hatte ja keine andere Wahl! Es war das Jahr 1920, es war Bürgerkrieg, es gab eine Hungersnot, es gab keine Zukunft – und er war immerhin ein Fabrikdirektor, hatte eine Sonderration… Seine Tante ha
t den Haushalt geführt, das war auch sehr praktisch – ich hasse es den ganzen Tag in der Küche zu stehen. Danach ist was in der Fabrik passiert, ich weiß nicht genau, da war irgendein Fall von Machtmissbrauch oder eine Unterschlagung, jedenfalls wurde er verhaftet. Zu der Zeit hatte ich Pawel schon kennen gelernt, aber Sie wissen ja selbst, als er verhaftet wurde, da konnte ich doch nicht einfach weggehen. Wenn der Mensch ohnehin bereits in einer Notlage ist… Er hat drei Jahre abgesessen, wurde vorzeitig entlassen, aber es war uns trotzdem klar, dass wir nicht länger zusammenbleiben würden. Und doch wurde ich schwanger. Kurz nachdem er draußen war. Das musste mir ja noch passieren! Da hat mich wohl der Teufel geritten!– Tja, – sagt Lera Sergeewna, – dem, der Kinder wirklich haben will, wird es verwehrt und dem, der sie nicht will… Ich habe acht Jahre lang mit Ilja Witaliewitsch zusammengelebt, bevor unser Witja geboren wurde.
– Davon kann ich nur träumen! – sagt die Mutter. – Ich, zum Beispiel, war ständig schwanger. Es war wie ein Fluch! Anfangs war ich selbst zu dumm, wusste überhaupt nicht was Verhütung ist. Wie ein Uhrwerk, jedes halbe Jahr! Pachomow wollte natürlich ein Kind von mir, aber ich wusste ganz genau, dass ich ihn früher oder später verlass
en würde und so eine Last hätte ich dann nicht brauchen können. Er war ein sehr schwieriger Mensch, unheimlich eifersüchtig.– Na, bei so einer Ehefrau – jung und dazu noch eine Schönheit – ist ja kein Wunder, – sagt Lera Sergeewna.
– Aber das betraf nicht nur mich allein. Er hat auch seine erste Ehefrau mit seiner idiotischen Eifersucht im wahrsten Sinne des Wortes ins Grab gebracht. Die Nachbarn haben es mir erzählt. Bei mir konnte er sich so was nicht erlauben, er wußte ganz genau, wenn er es nur wagen würde – wäre ich sofort aufgestanden und gegangen. Die andere aber hat er regelrecht in den Tod getrieben. Nein, in meiner Jugend habe ich niemals auch nur an irgendwelche Kinder gedacht. Und nun auf meine alten Tage, sehen Sie, hat es mich doch noch erwischt. Ich kann es mir ja selbst nicht verzeihen!.. Aber wer hätte denn den ganzen Alptraum vorausahnen können?! Pawel hatte vor dem Krieg eine gute Stelle gehabt – Abteilungsleiter. Man könnte fast sagen, uns fehlte so gut wie gar nichts… Wir dachten sogar, dass vielleicht noch etwas dazukommt…
– Und der andere? – fragt Lera Sergeewna. – Haben Sie noch Kontakt zu ihm?
– Ach, kommen Sie. Wozu noch Kontakt haben? Der ist jetzt wahrscheinlich uralt. Über sechzig… Wenn er überhaupt noch lebt. Vor dem Krieg l
ebte er irgendwo im Ural, und wo er jetzt ist, habe ich keine Ahnung…Stella Polonskaja steht auf einem Balkon im fünften Stock. Das ist seltsam, dass ich sie sehen kann – von unserem Fenster aus kann man diesen Balkon eigentlich gar nicht sehen. Und trotzdem kann ich sie sehen. Und was ich auch nicht verstehe, was macht sie denn da auf dem fremden Balkon. Die wohnen doch im zweiten und nicht im fünften Stock. Dort wohnt die Familie Inosemzew, und was macht Stella da? Warum steigt sie über das Balkongeländer? Ich habe Angst… Ich will nicht, dass sie über das Geländer steigt!
– Nein! – schreie ich. – Stella, tu das nicht!
Sie kann mich nicht hören… Sie lässt das Geländer los und beugt sich nach vorne. Ich kann das alles sehr deutlich sehen. Ich sehe, wie sie fällt und wie sie auf den Bürgersteig knallt, direkt unter dem Balkon. Menschen sammeln sich um sie herum, eine ganze Menge und ich stehe auch in dieser Menschenmenge.
– Warum, warum hast du das getan?! – schreien alle und weinen. Ich weine auch.
– Damit Ihr mir zuhört, – antwortet Stella. – Ihr wolltet mir nicht zuhören…
Alle warten, was sie noch sagen wird. Aber sie sagt nichts mehr. Gar nichts. Kein einziges Wort…
– Bist du jetzt wach – dann steh auf, was liegst du hier noch im Bett! – sagt die Mutter.
Ich rühre mich nicht. Die Tränen rollen mir über die Schläfen.
└Damit Ihr mir zuhört…“ Aber sie hat doch nichts gesagt… Muß der Mensch denn wirklich erst vom Balkon springen damit er Gehör findet?.. Ist Stella denn wirklich vom Balkon gesprungen? Nein, das war nicht Stella, das war Nonna, ihre Schwester Nonna… Die, die von der Straßenbahn überfahren wurde…
– Was heulst du wie ein Schlosshund? – sagt die Mutter. – Was hast du denn?
– Sie ist absichtlich vor die Straßenbahn gesprungen, nicht
wahr? – sage ich.– Wer ist gesprungen? Was für eine Straßenbahn?.. Was für ein Unsinn? Was faselst du denn da?
– Nonna Polonskaja…
– Nonna Polonskaja?! Was ist in dich gefahren? Dummes Zeug… Wer hat dir das gesagt?
– Ich weiß es einfach… Ihr wolltet ihr nicht zuhören!.. Niemand wollte ihr zuhören…
– Lass das! Hör jetzt sofort auf! – ärgert sich die Mutter. – Das ist ja ganz was neues! Reiner Schwachsinn. Wer hat dir denn diesen Unsinn eingeredet? Das hat mir gerade noch gefehlt!
Ich antworte nicht. Wie kann ich ihr das bloß erklären? Sie wird es sowieso nicht verstehen. Sie will es nicht verstehen. Niemand will es verstehen… Damit sie es verstehen, muss man zuerst vom Balkon springen… Oder sich vor die Straßenbahn werfen…
– Du hast sie doch gar nicht gekannt! Du kannst dich doch gar nicht an sie erinnern. Beruhige dich, aber sofort!
Nein, ich kann mich an sie erinnern… Ich werde sie nie vergessen.
└Ninchen, Töchterchen! – schreibt die Oma. – Deine Mutter ist schon wieder auf der Straße. Marusja hat mich rausgeworfen und Sascha, der Schurke, hat sich für mich nicht mal eingesetzt. Ich sag ihm: └Deine Schwester stirbt“ und der, steck seine Hände in die Taschen und geht pfeifend davon. Übernachten, tu ich auf dem Bahnhof. Die Polizei jagt mich
die ganze Zeit fort. Tja, Nina, was für ein Ende. Und dies nach alledem, als sich die Männer in Scharen um mich drängten und meine Blicke suchten. Und Petrowchikow, du wirst dich an ihn wahrscheinlich noch erinnern können, der, der beim Stadtamt angestellt war, hat noch achtzehnhundertneunundneunzig gedroht, sich zu erschießen, wenn ich ihn nicht heirate. Und jetzt bin ich noch schlimmer dran als ein Hund. Ich hab’ keine Ahnung, was ich machen soll, wenn der Winter kommt. Um dir schreiben zu können, musste ich einen Kassierer um einen Fetzen Papier anflehen. Und wenn man bedenkt, dass ich noch vor kurzem selber Kuverts zusammengeklebt und den deutschen Soldaten verkauft habe. Und George lebte noch. Und jetzt habe ich alles verloren und krepiere in der Gosse. Man wird mich in eine Grube schmeißen und niemand wird ein Kreuz aufstellen. Küss meine Enkelin von mir und vergiss deine Mutter nicht. Ich versuch’ jetzt mit Gottes Hilfe bei der Post eine Briefmarke zu erbetteln. Die Schuhe fallen auseinander, ich muss sie mit einem Stück Schnur festbinden und wenn’s regnet, geh ich meistens nicht raus. Weißt du noch als ich Schuhe aus Paris zu bestellen pflegte? Dein Vater ärgerte sich immer, dass ich Geld verschwende“.– Sie ist schwachsinnig, die Irre! – ärgert sich die Mutter. Statt diesen Unsinn über Petrowchikow und Paris zu schreiben, hätte sie mir lieber irgendeine Anschrift mitteilen sollen! Ich kann ihr doch nicht an den Bahnhof schreiben!
– Schreiben Sie doch ihrem Bruder, – rät Elisaweta Nikolaewna. – Soll er doch gehen und sie suchen. Also wirklich, was soll denn das? Wie kann man einen alten Menschen vor die Tür setzen…
– Ja, Sie haben Recht, – stimmt die Mutter zu. – Man sollte es versuchen. Ich hab daran überhaupt nicht gedacht… Ich versuche ihm ins Gewissen zu reden.
Wir sind auf dem Dorogomilowskij Markt.
– Was ist das? – frage ich.
– Wo? – Die Mutter seufzt, dann aber geht sie zu der Verkäuferin. Was kosten die Pflaumen?
– ’ne kleine Schale – zehn, ’ne große – zwanzig.
– Ich will wissen, was eine Pflaume kostet?
– Das gibt’s doch nicht! Was denkt die sich, soll ich ihr etwa eine Pflaume verkaufen?!
– Na, gut, dann verkaufen Sie mir halt zwei, – sagt die Mutter.
Das Marktweib brummt etwas unzufrieden vor sich hin, verkauft uns dann aber doch zwei Pflaumen für einen Rubel. Die sind groß und dick. Die Haut ist weiß beschlagen. Ich brenne vor Ungeduld in diese dicke, dunkle und frische Pflaume reinzubeißen.
– Geduld, – sagt die Mutter. – Die laufen dir ja nicht weg. Wenn wir zu Hause sind, werde ich sie waschen und mit heißem Wasser übergießen, dann kannst du sie essen. Die Fahrt mit der Straßenbahn ist unendlich lang. Ich gucke die ganze Zeit in den Beutel hinein und schaue mir die Pflaumen an.
Zu Hause gibt mir die Mutter eine Pflaume, die andere isst sie selbst. Die Pflaume schmeckt herrlich, schade nur, dass da drin ein so großer Kern ist. Die Mutter dreht den Kern in den Händen.
– Sollten wir probieren diesen hier zu pflanzen? – sagt sie. – Obwohl, hier wird es kaum wachsen…
Es ist Morgen. Es ist Zeit aufzustehen, ich drehe mich auf die andere Seite und tue so, als ob ich noch schlafen würde. Wenn ich die Augen öffne, wird sie mich aus dem Bett scheuchen und etwas arbeiten lassen.
Es ist ruhig im Zimmer. Ich mache ganz langsam die Augen auf – vorsichtig, damit sie es nicht merkt. Leer, niemand da. Wahrscheinlich ist sie in der Küche. Die wohlige Sonne scheint durchs Fenster herein. Ich liege und liege und die Mutter kommt und kommt nicht. Ich steige aus dem Bett und gehe zur Tür. Die Tür ist abgeschlossen. Das heißt, sie ist weggegangen und hat mich hier eingesperrt. Ich klettere auf das Fensterbrett. Unten laufen Menschen. Da ist eine Straßenbahn vorbeigefahren. Hier ist ein Mann direkt unter dem Fenster vorbeigegangen. Es ist lustig, auf die Menschen von oben herabzuschauen. Von oben sieht man nur einen Kopf und zwei Beine. Der Kopf ist rund und die Beine hängen dran wie zwei kleine Stöcke: der eine – vorne und der andere – hinten. Und dann umgekehrt: der da geht nach vorne und der da – nach hinten. Mir wird langsam langweilig auf dem Bauch zu liegen. Ich setze mich hin, lasse die Füße baumeln und fange an ein Lied zu singen, das ich von meiner Mutter gehört hatte:
Auf für Mütterchen Russland,
Auf für Väterchen Zar!
Ich weiß nicht wie es weitergeht, deswegen singe ich es noch mal:
Auf für Mütterchen Russland,
Auf für Väterchen Zar!
Die Leute auf der Straße schauen zu mir hoch. Ich sitze ganz hoch über ihnen! Ich bin hoch über den Bäumen, hoch über den anderen Häusern. Ich sitze einfach, tue nichts, singe und baumele mit den Füßen so lang ich will. Die Sonne lacht und weiße Flocken schweben in der Luft. Die Mädchen sagen, dass jede Flocke eine Seele ist. Seele ist – wenn der Mensch noch nicht geboren ist. Ich glaube ihnen nicht. Flocken sind einfach Flock
en.Auf für Mütterchen Russland,
Auf für Väterchen Zar!
Jemand klopft an die Tür. Ich höre auf zu singen. Das Klopfen wiederholt sich. Ich klettere vom Fensterbrett herunter.
– Wer ist da?
– Ich bin’s! – sagt Schurik. – Was singst du da?
– Ein Lied.
– Soll ich dir die Tür aufschließen? Ich weiß wo der Schlüssel ist.
– Na gut, schließ auf, – sage ich ihm. – Aber so, dass Praskowja Fedorowna nichts merkt.
Schurik findet den Schlüssel und lässt mich raus. Wir spielen zusammen. Auf dem Flur steht eine mit einem Wachstuch bedeckte Kiste von Naina Alexandrowna. Ich setze mich ganz vorsichtig auf die Kante, Schurik setzt sich auf meinen Schoß und Tanja auf seinen. Und so plumpsen wir in die Kiste hinein. Wir lachen uns fast tot, bis wir nicht mehr können. Dann klettern wir raus, bedecken die Kiste wieder mit dem Wachstuch, setzen uns darauf, plumpsen wieder hinunter und wälzen uns wieder vor Lachen.
Als nächstes zieht mich Mutter am Ohr aus der Kiste heraus.
– Wer hat dir denn erlaubt, das Zimmer zu verlassen? Wenn ich dich einsperre, dann habe ich meine Gründe dafür. Ab in die Ecke, du, Miststück! Was erlaubst du dir eigentlich? Glaubst du etwa – du kannst hier tun und lassen, was du willst?! Und danach heißt es dann wieder, ich hätte sie den Nachbarn untergeschoben. Lass die Finger von der Wand, du, Mistvieh! Na warte, ich zeig’s dir noch! Ich treib dir deine Dummheiten noch aus! Du bleibst hier bis morgen früh stehen, hast du das verstanden?!
Die Mutter jagt mir durch das ganze Zimmer hinterher. Wir rennen um den Tisch herum.
– Swetlana, Swetlana! – schreit sie mit einer furchteinflößenden Stimme.
In der Hand hält sie das Sperrholzbrett – dasselbe, das wir im Schrank gefunden hatten, als Burow aus unserem Zimmer auszog. Jetzt benutzen wir es als Untersetzer für den Teekessel und die Töpfe.
– Swetlana, Swetlana! – brüllt die Mutter und erwischt mich beinahe mit dem Untersetzer. Ich bin am Ende, ich kann nicht mehr laufen. Aber wenn die mich mit dem Untersetzer nur berührt, dann, ich weiß es, wird etwas furchtbares ges
chehen. Etwas furchtbares! Ich muss weiterrennen… A-a-a!– Was jammerst du? Was jammerst du, Miststück?
Ich setze mich aufs Bett und rücke von ihr weg. Wer ist sie denn? Warum ist sie meine Mutter? Warum sie und nicht Ljuba? Oder Elisaweta Nikolaewna?
Ü
bersetzt von Alexej LaikoFortsetzung folgt