Опубликовано в журнале Студия, номер 8, 2004
Elftes Kapitel1
Die Auferstehung
1
Die Umstände, die zu Majakowskis Tod führten, können wir also zurückverfolgen und benennen. Dennoch bleiben sie uns ein Rätsel. Auf zeitlichen Abstand gegangen, sehen wir deutlich, wie sie alle auf den verhängnisvollen Punkt zutreiben, ja haben wir schier die Hand vor Augen, die den Film seines Lebens eilig zu Ende dreht. Dabei drängt sich uns der seltsame Eindruck auf, daß ihm diese Hand durchaus nicht feindlich ist, daß
sie nämlich sein Leben eigens deshalb wie im Zeitraffer abrollen läßt, um es in ganzer Länge in einer anderen Dimension zu entrollen.Majakowski ist in ebenjenem Augenblick und jenes einzigen Todes gestorben, die für seine Auferstehung notwendig waren. Damit ist natürlich kein köperlicher Vorgang gemeint, sondern das Aufleben seines Werkes, seines Namens und seiner Schaffensmethode, sein Nachleben.
Machen wir die Probe aufs Exempel. Stellen wir uns sein Leben fünf bis sechs Jahre länger vor. Wir sehen, daß jede zusätzliche Spanne Zeit sein Nachleben ernstlich gefährdet hätte. Vor allem — was hätte er noch schreiben können? Mit den Schriftstellerkollegen aus der Kolchose wiedergekommen, hätte er solch ein «Murawien»
2 hingebaut, daß uns sein «Marsch der Fünfundzwanzigtausend» und sogar seine «150 000 000» wie Kindereien erschienen wären. Denn danach kamen die Hungersnot (1932), der Bau des Weißmeerkanals (1934) und mehrere andere berühmte Ereignisse. Er, der «jeden Tag schäumte in der Wut des Tages», wie Michail Kolzow treffend sagte, hätte die Bände seines Werkes so schonungslos überfrachtet, daß die zarte Schicht unseres Mitgefühls zerdrückt worden wäre, sich der frühe romantische Majakowski für uns verflüchtigt hätte wie der frühe romantische Gorki.Aber gut, gestehen wir ihm noch zwei oder drei Jahre zu.
Eine Gefahr, auch dem Kurzsichtigsten sichtbar, zieht schon von einer anderen Ecke herauf. Selbst wenn er Veronika Polonskaja friedlich geheiratet und die Kooperativwohnung (für die er schon angemeldet war) mit ihr bezogen, Stimme und Temperament endgültig geknebelt und sich zum bescheidenen Literaturbeamten (der er im Grunde schon war) entwickelt hätte — irgendwann wäre auch er beseitigt worden, wenn nicht für seine einstige Auffälligkeit so zumindest für s
eine Tschekistenbande.3 Briks sind durch seinen Ruhm verschont geblieben, er nur durch seinen Freitod.Mancher wird meinen, solch Märtyrertod wäre seinem Nachleben noch dienlicher als der Freitod gewesen. Bei einem andern vielleicht, nicht bei ihm, hier lie
gen die Dinge anders.Majakowski als Dichter und Mensch setzt sich für uns aus zwei Momenten zusammen: der Rezeption seines Werkes (im einzelnen wie im allgemeinen) und allen Formen seiner offiziellen Anerkennung. Nein, das ist nicht die übliche Verquickung von Eigenem und Fremdem, wie Tynjanow sie in seinem «Puschkin in den Jahrhunderten» zeigt, jenem Fremden, das wirklich außerhalb und abgelöst von seinem Objekt, dem Dichter, besteht. Das von Menschenhand geschaffene Denkmal für Majakowski (das abstrakte
, allgegenwärtige, allmaterielle) stellt einen untrennbaren — und den wohl größten — Teil von Majakowski und Majakowskis Lebenssinn und Hauptanspruch an das Leben dar. Dem postumen Majakowski nehmen, was an ihm Denkmal ist, hieße von einem anderen Dichter und Menschen sprechen, einem aus der Reihe der «verschiedenen Majakowskis», den es nicht gegeben hat.Die physische Vernichtung durch die Macht, die dem Nachleben Mandelstams nur wenig geschadet und dem von Pilnjak oder Artjom Wessjoly vielleicht sogar nachgeholfen hat, würde sein Nachleben gänzlich vereitelt haben. Vereitelt wäre es auch worden, wenn er die Abschiedszeilen («daß ich sterbe, dürft Ihr keinem zur Last legen») früher geschrieben hätte, 1923 etwa — damit wäre das Denkmal vereitelt worden, er hätte es sich einfach noch nicht verdient gehabt.
Die sieben letzten, fetten Jahre seines Lebens, die sieben mageren seines Schaffens, diese schon so gut wie postumen sieben Jahre sind ihm eigens dafür vorbehalten worden.
Dieser gleichsam höhere gestalterische Plan der äußeren Kräfte mit seinem Schicksal verleiht seinem Leben eine denkwürdige, beklemmende Bedeutung.
2
Der Dichter pflegt sein Leben mit seinen letzten Versen zu vollenden. Der Tod kann den Menschen in jeder Lage ereilen, des Dichters wird er sich aber erst bemächtigen, wenn dieser seine notwendigen letzten Worte gesagt hat, solche, die als Symbol und Schlüssel taugen.
«‘Der Fall ist gepfeffert’ …», so Majakowskis letzte Verse, abgeschrieben mit eigener Hand, aber viele Monate vorher entstanden. Die letzten von ihm geschriebenen Verse sind «Marsch der Fünfundzwanzigtausend» («Vor rückt der Feind, / ein Ende jetzt setzen / seiner popenkulakischen Brut»4) oder auch «An den Genossen Jugendlichen» («Wir marschieren in die Kommune, / die Reihen geschlossen, / Alte, Erwachsene und Kinder. / Genosse Jugendlicher, / sei kein Kind, sei / Kämpfer und Tätiger!»). Hier ließe sich natürlich bequem sagen, keine Verse von ihm erfüllen die Rolle des Symbols und Schlüssels besser als diese. Sie würden aber eine Karikatur ergeben, nicht sein Porträt, nicht seine Gestalt, letztlich auch nicht sein Leben. Auch wenn sie so ziemlich ins Schwarze treffen — wir halten dafür, daß seinem Leben und unserm Gespräch über ihn ein ernsthafterer Abschluß gebührt.
Darum wollen wir uns (inspiriert durch unseren Helden) auch einmal einen Austausch erlauben und seine real letzten Verse des Ranges der letzten Verse entheben, zumal dieser Rang ohnehin schon von aller Welt dem letzten Poem zugesprochen wurde.
Dies übrigens zu Recht. Der Vorspruch zu «Mit ganzer Stimme» drückt die Quintessenz seines ganzen Schaffens und seiner Dichterpersönlichkeit oder dessen, was sich an ihre Stelle gemogelt hat, aus. Das Generalthema des bereits in Todesnähe geschriebenen Poems ist abermals die Beschwö
rung einer fernen prächtigen Zukunft, wo der Autor leibhaftig zugegen, also wiederum von den Toten auferstanden ist.Schreiben wir einige dieser uns von Jugend an geläufigen Zeilen heraus:
«Hört mich, / Genossen Nachkommen, / den Agitator, / Häuptling Brüllhals. / Überdröhnend der Lyrik Geström, / werde ich hinwegtreten / über Bände voll Lyrik, / ein Lebender, / mit Lebenden redend, / und kommen / ins kommunistische Fernab / ohne romanzenjesseninsche Zier. / Mein Vers wird kommen / hinweg über den Bergkamm
der Zeiten / und Poeten und Vorsitzendenköpfe. / Mein Vers wird zu euch kommen, / doch wird er es anders / als bei amorleierischem Jagdspiel der Pfeil, / als zum Münzensammler / die abgegriffene Münze, / als längst verblichener Sterne Licht. / Mein Vers wird durchbrechen / das Massiv der Jahre / und zu euch kommen, / wichtig, wuchtig und greifbar, / so wie die Wasserleitung / kam in unsere Tage, / vorzeiten gebaut / von den Sklaven Roms.»Was uns diese Verse auch inhaltlich bedeuten mögen, sprachliche Wirkung können wir ihnen nicht absprechen. Alle Intonationsübergänge, alle Akzente sind in einer Weise gesetzt und austariert, wie es nur ein Meister vermag. Die Sprachfiguren haben solch eine Eindringlichkeit, daß fast alle in den Sprachgebrauch eingingen.
Nur einmal in diesem Text zollt der Autor der «wissenschaftliche Phantastik» Tribut: in dem ausgedehnten Vergleich der Verse mit kämpfenden Truppen. Aber auch dieses Stück hat Energie und Schwung. Hier aber wollen wir innehalten und der Untugend der Tendenziösheit frönen, ohnehin sind wir darin nicht ganz ungeübt. Wir zupfen an diesem kleinen Zipfel, um etwas Größeres ans Licht zu holen.
Ist nur «Mündung an Mündung gepreßt» ein unmögliches, nicht faßbares Bild? Wie steht es mit «Mündung der Titel» oder «Kavallerie der Pointen»? Ach, und die ganze Zeilenfront, rhytmisch so schön angeordnet, fügt sie sich überhaupt in unsere Vorstellung?
Nein, fügt sich nicht, doch seltsam, das scheint uns nicht weiter zu kümmern. Der ganze Abschnitt ist ein glänzendes Beispiel für demagogische Virtuosität, das meisterliche Trimmen von Inhalten und Worten auf eine vorgefaßte Schablone.
Der Ausgangspunkt ist unser alter Freund, das Klischee. Dem Publikum (der Gegenwart?, der Zukunft?) soll gezeigt werden, daß die Verse kämpferisch sind. Also werden die Seiten mit Truppen, die Reime mit Lanzen usw. verglichen. Suche nach passenden Vergleichen — so die Absicht der ganzen Passage. Nur, die auf die Absicht hingebogenen Vergleiche müssen zwangsläufig unstimmig und beliebig geraten. Die Lanzen der Reime und die Kavallerie der Pointen können ebensogut die Lanzen der Pointen und die Kavallerie der Reime sein, es bleibt sich gleich. Auf der ersten Seite sind die Zeilen Schlagringe, auf der nächsten Kampffront und Truppenlinien. Wie bringt man das auf einen Nenner? Zwecklos, es überhaupt zu versuchen — alles nur Worte Worte. «In den Kurganen der Bücher, / darin begraben liegt der Vers, / der Zeilen Schlagringe / zufällig findend …» Ich weiß noch, wie ich als Junge diese abgöttisch geliebten Zeilen auswendig lernte, dabei aber nicht auf den Gedanken kam, ihnen sprachlich auf den Grund zu gehen und dieses Genetivgewirr zu entwirren. In den Kurganen der Bücher, in den Kurganen der Zeilen Schlagringe, die Schlagringe der Reime … Erst die nüchterne Erwachsenenlogik half mir, die Beziehung all dieser Wörter zueinander zu klären, freilich auch nicht immer mit letzter Gewißheit.
Wenn wir uns von diesem Zentrum in zwei Richtungen fortbewegen, nach unten auf den Schluß und nach oben auf den Anfang zu, werden wir noch einen anderen Widerspruch finden, der zwar weniger auffällt, doch schwerer wiegt; er liegt Majakowskis ganzer Poetik zugrunde.
Wovon handelt das Poem? Vom Autor, richtig. Es hat zwei nebeneinander herlaufende Themen: die künftige wohlverdiente Auferstehung und eine ausgiebige Selbstdarstellung, durch die Wohlverdientheit der Auferstehung Bestätigung finden soll.
«Ihr werdet vielleicht auch fragen nach mir». Was wissen die Nachkommen schon noch vom Dichter, sie kennen seine Gedichte nicht oder nur zweilenweise. So muß der Dichter selbst erzählen, wer er war und was er gemacht hat. Das zum einen. Zum andern: «überdröhnend der Lyrik Geström … ein Lebender, mit Lebenden redend». Sein Vers wird eingehen in das künftige Leben, wird zum Alltag gehören, jedermann unentbehrlich sein. Na dann, Leute — «setzt die Brillenräder auf!» -, ist ja alles in Ordnung, besteht zu Trübsal kein Grund. Nein, besteht doch ein Grund! Denn wenig weiter treten die Kurgane der Bücher auf, darin begraben liegt der Vers, und der Zeilen Schlagringe, nur zufällig in dem versteinerten Haufen gefunden. Was denn nun, durchbricht der Vers das Massiv der Jahre oder nicht? Der Ruhm ist ausgeblieben — ach was, wozu auch. Von Anerkennung keine Spur — ist doch egal. Lieber Denkmal werden für uns alle, ja. Stirb, mein Vers, als namenloser Soldat. Doch wenn es so ist und sich der Autor derart mit allem zufrieden gibt — wozu noch sich recken und strecken und das Parteibüchlein heben über aller Köpfe hinaus? Wozu noch mit dem Zisch-Krächz-Laut «Ze-Ka-Ka» die Zukunft und nebenbei auch die Gegenwart angackern?
All diese einander zu Fall bringenden Zickzacks — bei jedem anderen Dichter würden sie genügen, das ganze Dichtwerk zu Fall zu bringen. Nicht bei Majakowski. Majakowski werden sie deshalb nicht gefährlich, weil sie nur Kriterien betreffen, die seinem System fremd sind: Sinn für Realität, Wahrheits- und Faktentreue und wirkliche Motivation.
Womit das Poem am meisten verblüfft — wie
vollendet es in seiner Welt der Hüllen und Masken ist. Mehr als anderes von Majakowski gibt es uns das Gefühl, daß irgendwas nicht mit rechten Dingen zugeht, eine übernatürliche Kraft, übermenschliche Magie waltet und über die Leere der Worte hinwegtäuscht. Nicht von ungefähr hat der scharfsinnige Leser Juri Tynjanow gerade am Beispiel dieses Poems geäußert, daß Majakowskis Verse «Einheiten eher einer Muskelanspannung als einer Rede» seien. Wer Sinn oder Sinnfälligkeit sucht, wird das Hauptelement des Poems nicht entdecken: der mächtige pulsierende Energiestrom. Ohne Erdung im Inhalt der Worte braust er über die Worte hin und reißt alles auf seinem Wege mit. Wahrlich, eine einzigartige Dichtung — jede Zeile hat Flügel, aber keine einzige auch nur ein Gran Wahrheit. Muß einem das nicht unheimlich sein? Majakowskis Gestalt steigert sich hier ins furchterregend Gigantische.«Über die Bande hinaus von Schmarotzer- und Raffer-Poeten …»
Unversehens imaginieren wir eine Szene wie aus dem Gruselkabinett: wiedererwacht in der Zukunft, richtet Majakowski sich auf, erhebt sich zu voller Größe; riesig wie ein kustodijewscher Bolschewik, mit finsterer Miene setzt er sich in Bewegung, stampft Poeten nieder und schleudert sie beiseite, bahnt sich den Weg zu der hohen strahlenden Tribüne, und sein schwerer Unterkiefer malmt …
Gott im Himmel, ist er nicht gar der Gottseibeiuns?!
Nicht zum erstenmal denken wir diesen Namen. Was stellt er in unserem Kontext dar? Ein Schmähwort nur, Ausdruck unsere Abneigung und Abwehr, oder mehr?
Unmöglich natürlich, eine gültige Antwort darauf zu finden. Obwohl es heute nicht wenige gibt, die eine solche längst haben.
3
Die Renaissance der Religion, wie wir sie gegenwärtig erleben, hat uns weniger zum wahren Glauben geführt (was ist das, der wahre Glaube?) als uns Gott und Teufel (besonders letzteren) als universales Ausdrucksmittel wiedergegeben. Von neuem halten wir eine Meßlatte in der Hand, die sich bequem anlegen läßt an jede Lebenssituation, jedes Schicksal, ob die eines Menschen oder einer ganzen Nation. Das ist der Teufel, sagen wir, und da
s und das ist er nicht. Und das da — zwar ist es nicht gleich der Teufel, aber dies und das hat es von ihm. Und alles bekommt seinen Platz, alles Unklare klärt sich, mehr zu klären gibt es nicht, wozu noch reden. Verlockend, nicht wahr?Gänzlich auf dieses abschüssige Gleis gesetzt, wäre das Gespräch über unseren schwierigen Helden von sich aus weiter- und bis ans Ende gerollt, ohne sich von unserm Bemühen ablenken zu lassen. Jetzt, nach allem, was schon gesagt wurde, laufen wir freilich gefahr, daß selbst
die kurze Erörterung dieser Sicht wie ein schaler Zweitaufguß wirkt. Da das Stichwort nun aber gefallen ist, wollen wir unserer Regung nachgeben und einige Gesichtspunkte nennen.Der Gottseibeiuns, der Teufel. Der Antipoet. Seine Bestimmung in dieser Welt ist der Austausch: Kultur durch Antikultur, Kunst durch Antikunst, Geistigkeit durch Antigeistigkeit.
Die Wahl fällt auf einen geeigneten jungen Mann: ichsüchtig und geltungsbedürftig, mit unsteter, furchtsamer Seele, dafür kräftiger Stimme und hoher Statur, der sich also äußerlich unübersehbar von allen anderen unterscheidet. Hundert Jahre zuvor ist Träger der höchsten Gabe, Träger des göttlichen Feuers ein Menschlein von weniger als mittlerem Wuchs gewesen, dazu mit einem Namen, der schmunzeln macht.
5 Der teuflische Plan verlangt nach einer augenfälligen Erscheinung und einem eindrucksvollen, bedeutungsvollen Namen.5Anfangs wird unser junger Mann nur gesäugt und gefüttert. Daher einerseits seine überschießende Energie, andererseits sein noch lebendiges Gesicht — unfreundlich zwar, ohne ein Lächeln, aber noch keine Maske. Die Überstellung seiner Seele an des Teufels Distrikt ist erst später erfolgt, um 1915.
Der Austausch ist das Ziel, ist aber auch Mittel, so daß er stets etwas Unvollständiges behält. Keine menschliche Auffassung würde auf ein Menschenimitat ansprechen, dem jeglicher menschliche Zug abgeht. So werden dem jungen Mann die Liebe zur Frau, Verletzlichkeit und Seelenpein belassen und seinen Aufrufen zur Schmähung all dessen, was heilig ist, Mild
erungen beigemengt in Form heldischer Gesten: «Ich reiße die Seele mir aus, / trample auf sie, / daß sie groß wird.» (Seele, anfangs hat er dieses Wort noch häufig verwendet, doch nur in mechanistischem Sinn, als handele es sich um ein eigenständiges, vom Körper getrenntes Ding.)Dann die Verführung durch die Frau, der blutige Pakt. Ein klassischer Schritt, seit Menschengedenken erprobt. Das Jahr 1917, Katastrophe und Chaos, alles zerbricht, doch die neue Macht mit ihrer noch unausgeformten Ordnung hat bereits ihren ausgeformten Dichter. Einen, den Blok anerkennt, Gorki schätzt, Zwetajewa preist.
Er löst seinen Pakt Punkt für Punkt ein, legt einen ungeheuren Fleiß an den Tag und setzt jedes Quantum der ihm zugeführten Energie um. Nach zehn Jahren hat er es geschafft, hat er jeden Aspekt des ihn umgebenden Lebens umgestülpt und mit einer schlagkräftigen Formel versehen.
Gegen Mitte der zwanziger Jahre ist nahezu alles Menschliche aus seiner Seele geschwunden. Hier geschieht es, daß der große Sponsor
die Energiezufuhr drosselt und nach und nach einstellt. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan …Aber die Verdienste wurden bemerkt und notiert.
Man schenkt ihm einen letzten Impuls für das letzte Poem. Nein, nicht fürs Poem, nur für den Vorspruch, gerade darin liegt aber das Geschenk. Vor dem Poem selbst bleibt er bewahrt. Dafür ballt sich die ganze ihm letztmals gesponsorte Energie in diesem Bruchstück zusammen, eine Dichte annehmend, daß man schier die Gestalt des Sponsors darin erkennt.
«Am Schwanz der Jahre werde ich Ebenbild der seit Urzeit Geschwänzten …»
Die letzte grausige milde Gabe der dunklen Mächte an ihn: für den großen Aufwand und die treuen Dienste die Tragödie. Sein Leben, das sich in Farcen und Banalitäten zu zerfasern droht, endet plötzlich mit einer Tragödie, deren Echtheit nicht zu bezweifeln ist. Über Nacht hat sie eine Brücke geschlagen zwischen dem Behördenzoff und Debattenplunder des Sowjetjahrs 1930 und der romantischen Rebellion seiner Jugendzeit. Der Suizid hat viele, viel zu viele mit ihm versöhnt, jede Zeile, jede Äußerung von ihm ins Licht der Tragödie gehoben. Er hat ihm Denkmäler aller Art, Millionenauflagen, vielbändige Forschungen eingebracht. Die «Intelligenzlerchen», die er stets so herzhaft bespuckt hat — in aller Welt rutschen sie vor ihm auf den Knien und studieren jeden seiner Buchstaben mit der Lupe. Der Pakt ist erfüllt. Aber wer weiß, vielleicht hält er auch noch die reale, physische Auferstehung bereit, wenn nicht im buchstäblichen so im abgewandelten Sinn? Wenn ja, so wird auch diese erfüllt werden, darauf können wir wetten, bei ihnen geht es ehrlich zu.
In Fortsetzung des Gedankenspiels schöpfen wir nun sogar den Verdacht, daß seine wundersame Auferstehung in der Sowjetwirklichkeit, die ja so reich an Wundern ist, bereits stattgefunden hat. Ja, kein Zweifel, schauen wir uns nur um. Sie hat es in Gestalt einer Posse und dreier Ausführungen: Jewtuschenko, Wosnessenski, Roshdestwenski. Bei jedem feiern bestimmte Seiten von ihm ihre leibhafte Wiederkehr.
Bei Roshdestwenski die äußeren Attribute: Statur, Stimme, der grobe Gesichtsschnitt und die Versstufen; dann die Verschwommenheit des Blicks und des Wortes und ein sprachlicher Pfusch, wie er Majakowski selbst nur bei äußerstem Kräfteverfall unterlief.
Bei Wosnessenski — der Wind um nichts und Sinn für Effekte, die Vorliebe für Technik und Komfort sowie der wie ein Spielzeugpropeller aufziehbare Frohsinn und ein nämlicher Grimm.
Bei Jewtuschenko, dem lebendigsten und begabtesten unseres Trios, die ganze Breitseite der Selbstparodie, doch auch alles, was menschlich an ihm war.
Alle drei sind über ein Rebellentum, das den rückversichernden Blick nie vergessen hat, über Oppositionellen-Show, Estradenruhm und sowjetische Auslandsvertretungen gleichzeitig zu Bekanntheit gelangt. Alle drei haben Majakowskis Alter weit überschritten und werden, wie zu hoffen ist, noch lange bar jeder Tragödie durchs Leben gehen. Nichts von Majakowskis ausgemachten Stärken steht ihnen zu Gebot, weder das scharfe Wort- und Rhytmusgespür noch gar die übernatürliche Energie. Dafür erbten sie die Neigung zum Konstruieren, das Verhältnis zur Welt als Hülle, das Verhältnis zum Wort als Teil eines Konstrukts, das Verhältnis zur Wahrheit des Wortes und Wahrheit des Faktes sowie einige Charakteristika: das Herausstr
eichen der eigenen Person, die Maske, die Didaktik. Die Hauptgabe aber, die von ihrer Vorinkarnation auf sie kam, heißt: mit solch verzweifeltem, höchstem und letztem Mut untertänigste Schwüre zu brüllen, als warte um die Ecke das Schaffott auf sie und nicht die Kasse mit dem Honorar.Majakowskis Persönlichkeitslogik folgend, stehen wir uns unversehens selbst als Objekt seiner Weissagung gegenüber: «Professoren werden studieren / bis zur letzten Note, / wie, wann und wo / ich erschien. / Ein großstirniger Trottel / auf dem Katheder / wird faseln von einem Gott-Teufel …» Immerhin können wir uns damit trösten, daß dieser Trottel eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem zu Leben erweckenden Chemiker hat: großstirnig.
Ein Gedankenspiel, wie gesagt. Natürlich geht dergleichen nicht an, wenn uns an einer ernsthaften Analyse liegt. Auch ist uns die Art der spekulativen Konstruktion, wie sie uns eben entschlüpfte, nur zu gut bekannt. Gleicht sie doch zu sehr jenem ausgewalzten Vergleich, über den wir uns oben mokierten.
Anscheinend hat er sich spornststreichs an unsere Fersen geheftet. Wir bedienten uns extrem irrationalistischer Begriffe, um die Methode zu verschleiern. Und anstatt den genauen Namen zu finden, haben wir einen vorgefundenen Namen, einen Klischee-, einen Schimpfnamen gesetzt.Andererseits, ein Name paßt nicht auf jeden. Bei Majakowski finden wir aber sofort, daß keiner besser als dieser paßt. Rührt das nicht vielleicht daher, daß die Sonderbarkeit seines Schicksals das Maß menschlicher Sonderbarkeit übersteigt und seine Unbestimmtheit als Dichter zu einer anderen Sphäre gehört als der, die wir Dichtergeheimnis nennen?
4
Doch hier müssen wir innehalten. Die Welt des Übernatürlichen und unser Begriffssystem stehen nun mal in keinem Zusammenhang. Wenn sie sich dennoch berühren, dann nur so leicht, daß es auch der skeptischste Rationalist annehmen kann.
Unter dieser Prämissee muß jede Erzählung mit dem Tod ihres Helden, selbst eines so unsterblichen wie des unsern, zum Stillstand kommen. Ein Lebensende ist das Ende einer Bewegung, was immer danach noch zu sagen sein mag. Wenn wir unser Gespräch noch etwas ausdehnen wollen, müssen wir also in Kauf nehmen, daß es statisch ist oder einer anderen Bewegungsart gehorcht. Dies um so mehr, als das Thema Nachleben eines D
ichters naturgemäß zu anderen Dichtern führt, solchen, die auf die eine oder andere Weise weitertragen, worin das Wesen ihres Vorgängers bestand.Es gibt die Auffassung, daß alle unsere Wünsche in Erfüllung gehen, wenn sie nur stark genug sind. Daß aber die Schicksalsmächte unsere Unvollkommenheit nutzen (Halbheit des Ausdrucks, Verschiedenheit der Kriterien) und uns zwar geben, worum wir bitten, aber anders als erwartet.
Majakowski hat seine Auferstehung bekommen, freilich nicht im Geiste Fjodorows, nicht indem die und die Moleküle wieder die und die Synthese eingingen und sein totes Gebein (das übrigens eingeäschert wurde — ob das in seinem Sinne war?) wieder Fleisch ansetzte. Ihm wurde die begehrte Auferstehung in der einzigen Weise zuteil, die die Gesetze von Tod und Leben einem Dichter und Menschen gewähren können. Dabei hat aber das Schicksal die Invarianten, d.h. die bestimmenden Faktoren, die erlauben, nicht von Einfluß oder Wirkung, sondern von Reinkarnation zu sprechen, nach seinem Gusto gewählt. Unser Held schrieb ein Gesuch auf den Namen eines Chemikers: «Tragen Sie selbst ein …» Möglich, daß die postwendende Antwort aus der Zukunft ihn selbst nicht zufriedengestellt hätte, wir jedoch, die wir von abseits und schon fast aus der Zukunft blicken, sehen, daß seine Wünsche erfüllt wurden. Ob uns das gefällt, ist eine andere Frage.
Marina Zwetajewa nannte Majakowski den «in der Welt ersten Dichter der Massen». Damit hat sie ein verbreitetes Klischee wiederholt (oder vorweggenommen). Aber aus diesem Mund hört sich alles anders an, aus diesen Händen möchten wir alles annehmen. Wir denken nach: wer weiß, vielleicht hat sie sogar recht? Ein Dichter der Massen muß nicht unbedingt ein Dichter für die Massen sein, er kann auch ein Dichter sein, der bestimmte Wesenszüge des Massenbewußtseins zum Ausdruck bringt, weil er die Massen, d.h. das Weltverständnis der Massen, verinnerlicht hat. Interessant, daß nach dem berühmten Führersignal Majakowski erstmals in niemand anderem als den Massen auferstanden ist, wenn auch nur unvollkommen und fast ausschließlich im Formalen: in den schreibenden Massen. Das Tönen und Flimmern seines Namens in Funk und Presse, die Aufnahme seiner Texte in den Lehrplan der Schulen machten, daß sich der Strom der Graphomanen- bzw. Laienergüsse in Blitzes Eile umorientierte. Schnell fanden die schreibenden Massen heraus, daß «à la Majakowski schreiben» leichter und schöner ist als à la Blok oder Jessenin, zumal bei Humor und Satire und ähnlicher Staatsbürger-Lyrik. Sie erhoben die äußeren Verselemente zum non plus ultra, warfen mit dem unregelmäßigen Versmaß die Notwendigkeit über Bord, die Zeilen genau aufeinander abzustimmen — welche Freiheit und Weite! Viel besser als mit der klassischen Form ließ sich damit bemänteln, daß an der Stelle des unausgesprochenen Darüberhinaus ein schwarzes Loch war. Bald wimmelte es in allen Wandzeitungen, Zeitungen und Zeitschriften von Stufenversen, akrobatischen Mehrsilbenreimen, vorsichtigen Neologismen, klangvollen Suffixen, die vereint Geschichten erzählten von sträflich versäumten Rechenschaftsberichten, unerfüllten Arbeitsverpflichtungen, von Volksfeinden, froher Zuversicht und anderen ernsten Dingen der Zeit.
Die vollständige und vollwertige Reinkarnation ließ dann noch lange auf sich warten, dazu mußte erst eine neue Generation kommen. Auf den Grad ihrer Wirkung kann man schon schließen, wenn man die Wirkung bedenkt, die Majakowski zu Lebzeiten auf andere ausübte — eine Wirkung, die weniger Wirkung als Infiltration war. Sie wurde um so stabilisierender, je mehr Ähnlichkeit, und um so verheerender, je mehr eigenes Talent da waren.
Assejew, Kirsanow, Selwinski usw. brachte die Nähe zu Majakowski zweifellos Gewinn. Sie kam ihnen handwerklich zugute, führte sie in den Dichterberuf ein, lehrte sie Punkt für Punkt, «wie man Verse macht».
Eine beträchtliche Dosis Majakowski-Strahlung haben zu verschiedenen Zeiten auch bedeutende Dichter abbekommen, Pasternak und Sabolozki z.B. Zum Glück ist sie nicht tödlich gewesen, im Gegenteil — sie hat die Abwehrkräfte gestärk
t.Aber Pasternak befand sich lange in einem kritischen Zustand.
«… daß du nicht halb und nicht nebenbei nur / heute mit den Arbeitern bist, daß wir vereint / unsere Menschheit zu Göttern formen, / wird unser letztes großes Gefecht.»
Dieses Prachtwerk aus den Zeiten des Lef gibt ihn uns noch halbwegs zu erkennen. In anderen Versen derselben Zeit finden wir ihn kaum wieder.
Geht es an,
ein Lied dieses Sodom zu nennen,
das die Erde,
sich stürzend von Büchern
auf Lanzen und Bajonette,
annahm
mit solcher Not?
Die Stufen, gebe ich zu, sind von mir, aber der Text stammt wirklich von Pasternak.
Heute können wir kaum noch ermessen, wie ernst es um ihn gestanden hat.
«Als Majakowski und ich uns näher kennenlernten, entdeckten wir überraschende technische Gemeinsamkeiten, ähnliche Bildstrukturen, eine ähnliche Behandlung des Reims. Ich liebte die Schönheit und den Erfolg seiner Bewegungen. Besseres konnte mir nicht passieren.»
Besseres konnte ihm nicht passieren …
Wenn er nicht rechtzeitig aufgewacht wäre, würden wir heute mit ihm keinen Pasternak, sondern einen 150%igen oder sogar — ein Viertel geht an Assejew — 175%igen Majakowski haben.
Wo die Gemeinsamkeiten liegen, sah er richtig — im Bereich des Handwerklich-Technischen: der Struktur, des äußeren Baus. Pasternak hat die Realität nicht verrenkt und zerstückelt wie Majakowski, sondern hat ein geschlossenes Bild von ihr gebaut. Dank seines «Gottes der Details». Doch eben — gebaut, d.h. konstruiert, und darin traf er sich mit Majakowski. An diesem Punkt kamen sie sich so gefährlich nahe, daß der eine — die Kraft des Vakuums ist bekannt — den andern unverzüglich aufzusaugen begann. Wir können nur von Glück reden, daß Briks und die ganze Lef-Kompanie fremde Seelen nicht vertragen und Pasternak wieder abgestoßen haben.
«Alles wandelt sich unterm Welt-Zodiakus — / Pasternakus bleibt Pasternakus.»
Dieses Epigramm von Alexander Archangelski klingt heute wie ein Seufzer der Erleichterung.
5
Es gibt noch einen großen Dichter, der eine Strahlendosis abbekommen hat, eine so starke, wie sie nur Auserwählten vorbehalten sein kann. Er ist nicht auf Abstand, nicht in Deckung gegangen. Genauer gesagt, sie: Marina Zwetajewa.
Die Grenze zwischen ihrer frühen und ihrer späten Periode liegt nicht bei der Revolution oder der Emigration, sondern dazwischen und führt durch das Gedicht «An Majakowski». Diese beiden Perioden unterscheiden sich so grundsätzlich voneinander, daß wir nur staunen können, meinen wir doch zu wissen, daß Zwetajewas Vorzug gerade in ihrer Geschlossenh
eit liegt. Die frühe, späte, die junge, reife oder die alternde Zwetajewa sind in der Tat ein und dieselbe Person, ihre Konstantheit, ihre Treue zu sich nötigt uns größte Bewunderung ab. Alles an ihr ist aufs höchste gesteigert — Liebe und Abscheu, Trauer, Schmerz, Bitterkeit, Zorn. Was wir von ihren Gedichten auch halten mögen, stets wird sie für uns die ergreifendste, am meisten auf uns übergreifende Erscheinung der russischen Poesie bleiben. Im Unterschied zu Majakowski ist sie immer echt und sie selbst, ist sie entschieden, klar, aufrichtig und (manchmal sogar bis zum Überdruß) freimütig.Doch sie hat eine bestimmte Gemeinsamkeit mit Majakowski, und die ist entscheidend: die Gewolltheit, Vorbedachtheit, das konstruktivistische Denken und vor allem das Verhältnis zum Wort. Dieser ihr Kern, weil gebettet in die Natürlichkeit von Rede und Rhythmus, bleibt anfangs lange verborgen, wird jedoch später zum Angriffspunkt eines Hakens, der sie aus dem harmonischen Fluß an Deck hinaufzieht. An das harte, flache Deck des Eisbrechers └Tscheljuskin“.
«Heute — lache ich! / Heute — lebe hoch mir / die Sowjetunion! / An euch halte ich / mit jedem Muskel mich, rufe stolz: / Tscheljuskinze ist gleich Russe!»
Wie anders klingt dieses Motiv bei der anderen, frühen Zwetajewa: «
Mein Name ist Marina, / mein Treiben Verrat, / ich, ein vergehender Meerschaum»!Zwischen diesen Perioden verläuft eine Wasserscheide, die so aussieht:
«Hoch über Kreuzen und Schloten / Gekreuzigt in Feuer und Rauch, / Erzengel-Stampffuß — / Wladimir aller
Zeiten, bravo! …»Ein zugkräftiges, ein gutes Gedicht, und doch — warum lesen wir es mit solcher Besorgnis? Weil nach ihm die Sintflut kommt. Danach setzt eine andere Zwetajewa ein, die, anstatt
sich mit dem Wort auszudrücken, das Wort traktiert, es bedrängt und bedrückt, damit es endlich, endlich, Hergott nochmal, sie ausdrückt. Der «Nachgiebigkeit des Russischen» überdrüssig, führt sie einen Krieg mit der Sprache nicht aufs Leben, sondern auf den Tod.Wirkliches Neuerertum wird nur eine unfruchtbar gewordene, rückständige Tradition verletzen, keinesfalls aber die Gesetze der Natur und Harmonie, der menschlichen Wahrnehmung und Vorstellungskraft, es hat sogar einen äußerst wachen, geschärften Sinn für sie. Und sie, diese Gesetze, sind es, die dem Vers eine ihm lebensnotwendige Eigenschaft auferlegen — Lesbarkeit von sich aus. Ein Vers mag so kompliziert sein wie er will, er muß nur eines können — sich von sich aus lesen lassen, ohne Hilfe von außen. Solche Hilfe pflegen uns — Rezitatoren gleich, die der Dichtung mißtrauen — Dichter aufzudrängen, deren Kopf sich der Harmonie widersetzt und sie hindert, sich mit dem lebendigen Wort zu verschwistern.
«Um es dir ganz zu sagen … Doch nein, in Reihen / und Reime gesperrt … Das Herz ist ja weiter!»
So klagt Zwetajewa über die Enge, die beengten Möglichkeiten der Versform. Die «Reihen und Reime» als Hemmnis für die Gefühlsäußerung. In ihrer Art hat sie damit aber durchaus recht. Recht von der Warte eines Menschen, der im Vers nicht leben, sondern sich auf Biegen und Brechen erklären will.
Der Eindruck von Künstlichkeit einer poetischen Rede zeugt nicht unbedingt von Schwäche, eher im Gegenteil — er muß aber ausgeglichen sein durch Harmonie. Nur in diesem Fall ist er zu existieren berechtigt. Bei der reifen, der zweiten Zwetajewa wird er aber nicht ausgeglichen, sondern läuft unverändert bis zum Schluß mit, um als Bodensatz zu verbleiben. Der Vers, weil mit dem Kopf gebaut, kann die reichen Autorgefühle nicht fassen, so übt er mit Reim und Rhytmus Druck auf sie aus. Lesbarkeit von sich aus ist ihm fremd, auch kann er sie gar nicht gebrauchen. Von sich aus lesbar, würde er nicht nur verlieren, was er ausdrücken, sondern womöglich dazubekommen, was er nicht ausdrücken soll. Um ihn in Schach zu halten, beginnt ihn der Autor zu quälen, jedes Wort wird pressiert, damit es nicht ausdrückt, was es ausdrückt, sondern einzig und allein echte Gefühle. Das geschieht durch syntaktische Zeilenüberspringer, jähe Zeilenbrüche, grafische Hervorhebungen und vor allem eine Unmenge von Satzzeichen. Das Gedicht wird wie zu einem Bühnenstück, dessen Zuviel an Regieanweisung den Text erdrückt. Die Lektüre wird zu einer mühseligen Inszenierung, die den Leser überfordert und aller Empfindung beraubt. Oder ob das Absicht ist?
Der Leser wird ständig ermahnt: aufpassen, aufpassen, jedes Wort aussprechen, das eine laut, das andere leise, dieses kurz, jenes lang, dann Pause machen, dann abbrechen auf die halbe Synkope genau! Wozu nur solche Schwerstarbeit? Um einen Mangel oder umgekehrt ein trotzig Vorbliebenes, nämlich die unerwünschten elementaren Eigenschaften des Verses zu überspielen?
Natürlich hat auch Zwetajewas späte Periode unbestreitbare Höhen. Da ist es, als sei sie aus einem bösen Traum, wo ein unnatürliches, irreales Gesetz geherrscht hat, erwacht, um sich befreit im lebendigen Vers zu ergießen. Doch auch hier entsteht nur allzuoft kein sichtbares oder hörbares Bild, sondern eine tönende Formel, ein glänzender Aphorismus, die im Augenblick zwar beeindrucken mögen, aber ohne Echo und Wirkung bleiben.
Aus diesem zermürbenden Krieg zieht sie sich eines Tages zurück und wendet sich der Prosa zu. Hier ist sie großartig — geistvoll, scharfsinnig, artistisch, inhaltsreich. Hier können ihre Leistungen nicht genug gewürdigt werden — in der Tat, erste Spitzenklasse, ganz auf der Höhe ihres elenden, leidvollen Lebens. Und doch, auch hier gibt es eine Grenze zwischen Organisch und Konstruiert, nur zeitlich nicht so genau bestimmbar. Zumindest wird sie weniger durch den Zeitpunkt des Schreibens best
immt als vielmehr durch den Gegenstand, der zur Rede steht, ein Mensch, ein Ereignis. Wo der Gegenstand klar umrissen ist, hauptsächlich wenn er in ferner Vergangenheit liegt, erweist sich die Prosa als meisterhaft; wo er es aber nicht oder nur halb, wo er nur Anlaß statt Notwendigkeit ist, wird der Sprache erneut Gewalt angetan, drängen sich an die Stelle des Wortes Wörter, des Gedankens Sätze, Absätze, Seiten. Ein aufgezogenes Uhrwerk, das unbedingt ablaufen soll bis zum Anschlag. Statt Lesbarkeit von sich aus mechanischer Ablauf. Keine Satzfigur, die endete, bevor nicht alle Wörter etwa derselben Wurzel oder desselben Präfix aufgeführt sind. Statt der tieferen, geheimen Verwandtschaft von Wort und Wort oder Wort und Begriff oberflächliche, mechanische, grammatische Verwandtschaft. Ein linguistisches Karussell, das nichts bewirkt außer daß es uns schwindlig macht.«Majakowski lange lesen ist aus rein physischer Belastung unerträglich. Nach Majakowski muß man viel und lange essen.»
Dieses richtige Wort der ersten, reichen Zwetajewa trifft genausogut auf Zwetajewa selbst, doch die zweite, arme, zu.
Erstaunlich, wie sehr sich Majakowskis Verse und die ihrer zweiten Periode der Form nach ähneln, manchmal sogar bis ins einzelne Wort.
«Feuerwehr! — die Seele brennt! / Oder ist es, was brennt, unser Haus? // Zum Eiffelturm reichst du hin mit der Hand. / Streck sie aus und steige! // Ich will in dieser Kiste voll Frauenleiber / Nicht abwarten des Todes Gong! / Ich will …» usw.
Aber am deutlichsten ist die Ähnlichkeit bei der sozialen Thematik. Dasselbe Pathos, dieselbe Art Bilder, einmal sogar dieselben blutüberströmten Leiber:
«Eilt, eilfertige Sergeanten! / Der Kaufherr von Dielenpflegern erstochen! / Da, schluckt nur, was nie euch geträumt: / Der Kaufherr erledigt
von Dielenpflegern.»Zum Vergleich (Majakowski): «Mit dem Mes-ser-lein — den schnaufenden Gutsherrn — ritsch- ratsch!»
Derselbe Haß auf die Dicken und Satten, derselbe Zeigefinger gegen den Kleinbürger, sogar unter Bemühung des vielbemühten Federbetts, dieselbe Klage über Benachteiligung und Armut. Mit dem einen Unterschied freilich: Zwetajewa ist nicht im Ersterklasseabteil internationaler Züge gereist und hat wirklich zeitlebens gedarbt. Aber gerade dadurch sieht Majakowskis Robe so unförmig an ihr aus,
zu sichtlich wie geliehen oder von der reichen Tante geerbt. Fast immer fällt der Vergleich zu ihren Ungunsten aus. Denn das müssen wir Majakowski lassen — er zeigt nur das, was er hat. Was er hat, ist allerdings nur Maske. Zwetajewa läßt durch die Maske des Verses immer auch sich selbst blicken. Da es das einzige ist, was uns interessiert, drängt es uns ständig, die Maske beiseite zu schieben, den Vers beiseite zu schieben, um die bekannten lebendigen Züge zu sehen.Sie hat Majakowski geliebt. Majakowski wie auch Pasternak. Pasternak war ihr sehr nah, ihr schien sogar, hautnah, war aber zu hermetisch, daher als Vorbild zu ungefährlich. Majakowski war ihr fern, stand ihr wie allen aber ständig vor Augen. Seine unumstößliche Sichtbarkeit wurde ihr zur Verführung …
Sie hatte viel Männliches an sich, hat sich oft selbst als groben Schlacks, als Urian, Erzengel-Stampffuß empfunden. Kein Zweifel, mit ihrem «An Majakowski» meint sie sich auch selbst.
Wiederum: nicht Einfluß sondern Infiltration — Majakowskis Nist
en in der Seele eines andern Dichters. Hier einer ihm zwar wesensfremden, doch in bestimmten nicht unwesentlichen Punkten verwandten.Über Majakowski und Pasternak schrieb Zwetajewa den berühmten Essay «Epos und Lyrik des zeitgenössischen Rußland», eine vorzügliche Arbeit. Doch indem sie die Besonderheiten der beiden nennt, scheint ihr zu entgehen (wenn aber nicht, würde sie es nie eingestehen), daß sie nicht von Lyrik und Epos, sondern von Poesie und Unpoesie spricht. Sie urteilt sogar so rigoros, daß man
Majakowski hier und da verteidigen möchte. Am aufschlußreichsten sind jedoch ihre Verwandtschaftskriterien.«Wir kommen zu dem einzigen Maß der Dinge und Menschen in der gegebenen Stunde des Zeitalters (1932 — J.K.): dem Verhältnis zu Rußland. Hier sind Pasternak und Majakowski Gleichgesinnte. Beide sind für die neue Welt …»
Von hier ist es nicht mehr weit bis zu «Russe ist gleich Tscheljuskinze», «lebe hoch mir» usw., Stationen, die sie letztlich auf den Weg Paris — Moskau leiten werden und weiter — nach Tschistopol und Jelabuga …
«Euch Höhlenaufklärern / Ein schallendes: SSR — / Durchs Dunkel der Himmel schallt es / Nicht weniger zwingend als — SOS.»
So, über die Konstruktion, über Losung und Deklaration führt die Ausdrucksmethode zur Methode der Wirkl
ichkeitswahrnehmung und des Verstehens der (neuen) Welt. Bravo, Wladimir!6
Auch heute — die drei Dichter-Parodien lassen wir beiseite — haben wir zumindest einen Dichter, in dem Majakowski weiterlebt, und zwar in einem Maße und einer Qualität, wovon unsereins nur träumen kann, der wohl wichtigste von allen, die es überhaupt gibt: Josef Brodski.
Unsere erste Regung bei diesem Namen — jede Gemeinsamkeit mit Majakowski weit von uns zu weisen.
Fern aller betriebsamen Selbstbehauptung, keiner Macht unterworfen, nur mit sich selbst im Bunde, aussätzig und verstoßen, stellt Brodski in allen seinen Lebens- und Schaffensmerkmalen äußerlich das ganze Gegenteil von Majakowski dar. Kultur und Revolution, Vergangenheit und Zukunft, Staat und Individuum, Gott und Technik, schließlich schlicht nur Gut und Böse, all diese der Welt wichtigen Begriffe tragen in beider Systeme entgegengesetzte Vorzeichen.
Definiert sich ein Dichter aber aus dem System seiner Anschauungen? Nein, sondern allein aus seiner Ausdrucksmethode, seiner Art, die Welt, wie er sie auffaßt, auszudrücken.
Prompt sagen wir — ach wo, auch hier nicht die kleinste Vergleichsmöglichkeit: eine traditionsgebunden achtsame Behandlung des Wortes, makelloses klassisches Versmaß, ein ruhiger Sprachfluß, dessen einzige Schwäche das Herüberziehen einer Sinneinheit in die nächste Zeile oder sogar Strophe und der dürftige, bewußt ungenau gehaltene Reim sind. Wo wäre hier Gemeinsames mit Majakowski?
Der Witz liegt aber gerade darin, daß Brodski nicht Nachahmer, sondern Nachfolger ist, die wandelnde Fortsetzung von Majakowski. Ein völlig eigener, selbständiger Dichter, für unsere Zeit vielleicht ebenso neu wie Majakowski für die seine. Majakowski hat eine Tendenz begründet, Brodski zeitigt ihr Ergebnis. Nur daß Brodski nicht, wie Majakowski, einen, sondern mehrere Plätze einnimmt, für andere, ausgebliebene Dichter gleich mit.
Außer viel gebildeter ist Brodski auch viel intellegenter als Majakowski. Und über sein Können kann man nur sagen, daß es ins Absolute geht. Nicht nur daß er geschickt vermeidet, seine Stilmittel sehen zu lassen und damit den Leser darauf zu fixieren — wie kein zweiter weiß er auch mit ihnen hauszuhalten und sie wirkungsvoll einzusetzen. Alles fügt sich unter seinen Händen geschmeidig aneinander, nichts sperrt hervor oder fällt zu Boden, alles ist von einem so straffen Bogen gehalten, daß selbst hohlste Zeilen wie zwingend notwendig erscheinen. Das erste Gefühl, das in uns aufkommt, wenn wir ihn lesen, und uns bis zum Schluß beherrscht: Hochachtung und Bewunderung. Das zweite trägt den Namen dessen, was danach aufkommt.
Noch spürbarer als bei Majakowski bleibt bei Brodski jede bildliche Wirkung aus. Bei ersterem ist es Folge des Konstruktivismus, zwar ins Gewicht fallend, doch nur am Rande, bei letzterem Prinzip. Brodskis Stärke wird uns bei jedem seiner Worte bewußt, doch unsere Leserseele, der es auf Mitautorschaft und Katarsis ankommtt, will kein diktiertes, sondern ein freies Wort, das ein Bild in uns wachruft. So lesen wir wieder und wieder, um das erhoffte Bild zu gewinnen, jedesmal scheint uns, daß es gelingt, aber jedesmal gehen wir leer aus. Die Ebene hat uns getäuscht, die zwar hoch, aber ledglich die des Gesprächs ist, nicht der Wahrnehmung und Empfindung.
Wir fühlen uns seltsam erniedrigt. Uns ist wie nach einer Raute auf einem vornehmen Ball: dasselbe verschämt-geschmeichelte Gefühl der Zugehörigkeit, dieselbe physische und psychische Ermattung und dieselbe emotionelle Leere. Ist denn zu glauben, daß soviel so reich, klug und schön Gesagtes einem
nichts gesagt haben kann?Fällt Ihnen nicht auch auf, wie wenig sich einem diese Verse einprägen? Auswendig kann sie nur, wer sie eigens gelernt hat. Warum das so ist? Weil fast allen statt der inneren Logik eines Bildes die äußere Logik eines
Syntax-Gebildes innewohnt. Brodskis wichtigster Gedichtband heißt «Redeteil», ebenso ein Sammelband ihm zu Ehren. Dieser grammatische Titel ist natürlich kein Zufall, «Satzteil» würde allerdings noch besser passen. Denn trotz aller Sorgfalt des Wortes liegt dem Vers nicht das Wort, nicht die Zeile oder Strophe, sondern allein der Satz zugrunde. Am deutlichsten wird dieses Prinzip, wo sich der Satz über mehrere Strophen erstreckt, aber auch kürzeste Verse weisen es auf.Die Spannung zwischen rhythmischer und syntaktischer Struktur, fortlaufend zu beobachten, erweckt den Eindruck von Fülle und Tiefe, der aber nach der Lektüre wieder vergeht. So kommt es übrigens, daß besonders die längeren Gedichte, wo der Satz über mehrere Strophen läuft, reicher und bedeutsamer erscheinen als sie sind. Es kann auch geschehen, daß es den Satz formal gar nicht gibt, er in der Strophe nur existiert als unausgedrückter oder nie gänzlich ausdrückbarer Gedanke. Er läuft von Strophe zu Strophe, von Mal zu Mal einen Tropfen mehr aufnehmend, wie uns, die wir sehnsüchtig warten, versprechend, sich im nächsten Moment voll zu ergießen und sein Woher und Wohin zu enthüllen. Aber dann bleibt er wie er ist liegen, eine gewölbte Quecksilberlache am Boden der letzten Strophe.
Ja, Brodski ist ein sehr talentierter Mensch.
Von seinen Versen zieht es uns in der Brust.
Versen, wie sie Onegin geschrieben hätte, hätte er nicht die Mühe des Schreibens gescheut. Freilich, bevor er sich in Tatjana verliebte.
Apropos Onegin. Hier das zwar nicht schlagende, aber bemerkenswerte Beispiel einer Ähnlichkeit — das Nachäffespiel mit der Klassik.
Majakowski: «Ihr Mann, man weiß, ist ein Esel, und sein Maul trieft vor Lüge, / Ich liebe Sie, werden Sie schnellstens die meine. / Heute morgen noch muß ich gewiß sein …» usw.
Brodski: «Indes, der Mensch, meine liebwerten Herren, / Ist sich der starken Gefühle so ungewiß, / Daß ihm ewig das Maul trieft vor Lüge …» usw.
Man kann noch mehr Verbindungslinien ziehen, etwa diese: «Der Tage Ochse ist falb, / Träg der Tage Karren. / Unser Gott ist der Lauf, / Unsere Trommel das Herz» (Majakowski). — «Jeder vor Gott ist nackt. / Klein, nackt und erbärmlich. / In jeder Musik ist Bach, / In jedem von uns Gott … / Denn die Ewigkeit [gehört] / den Göttern, / Und die Vergänglichkeit — den Ochsen. / Das Göttliche wird uns Götterdämmerung» (Brodski).6
Die Unterschiedlichkeit, ja Gegensätzlichkeit des Sinns spielen hier kaum eine Rolle. Wichtiger sind Intonation und Rhythmus, das Verhältnis zum Wort, zur Materie Vers und zur Materie schlechthin. Wichtig ist, daß wir auch hier nur eine Hülle ohne Wesen haben, ein kunstvolles Gefäß voller Leere. Majakowskis leerstehende Seele weist immerhin noch Schmerzpunkte auf, die hier und da hervorblitzen aus dem Vers; heute scheint selbst das und die Notwend
igkeit dessen entbehrlich zu sein. Neue Zeiten, neue Lieder. Majakowskis Epoche hat die Ablehnung hoher und starker Gefühle erklärt, die heutige macht sie wahr. Heute, wo die Treue zu den ethischen und kulturellen Werten lautstark erklärt wird, hat das Maß an Austausch, an Schein und Vorgeblichkeit den Gipfel erreicht. Nicht nur die Werte, die ganze Lebenswirklichkeit sind ein Phantom geworden. Von allen Genres gibt es nur noch die Parodie. Alle Prosaiker schreiben Pamphlete und Farcen, alle Dichter ironische Traktate, wo jedes echte Gefühl Anführungszeichen erhält. Alle ergehen sich in Verrenkungen, höhnen und äffen, selbst die Ernsthaftesten halten stets die fünf Finger bereit, der Welt eine lange Nase zu drehen. Ungewiß ist zudem, was parodiert wird — das reale Leben oder eine Literatur, die es einst ausgedrückt hat, oder eine, die es ausdrücken könnte? Früher wurden die Wertmaßstäbe verdreht, heute werden sie ignoriert. Und Josef Brodski, der Beste und Talentierteste von heute, der seinen hohen Titel nicht aus Beamten-, sondern aus Leserhänden empfing, legt am besten und talentiertesten Zeugnis darüber ab.Mit ein und demselben Ernst und Unernst, ein und derselben Trauer und Ironie, ein und derselben Geschmeidigkeit und Eleganz schreibt er über den Tod: eines gefangenen Schmetterlings, einer Frau (nein, nicht der geliebten, nur einer, mit der er irgendwann … ach, unwichtig), schließlich Marschall Shukows und schließlich und endlich Maria Stuarts. Das kunstvolle Satzgebilde verzweigt sich, findet wieder zu
sammen nach allen grammatischen Regeln und endet, wo der Punkt gesetzt ist.Grausig.
Von wegen Onegin — ein elektronisches Hirn! «Der elektrischen Dienste Zimmer ist fashionabel …»
Die Bewegung in Raum und Zeit als physische Kategorie, wie ungemein nimmt sie Brodski gefangen. Was macht es, daß Majakowski all seine euklidischen Hüllen schon ausgeschöpft, ja ausgekratzt hat — Brodski wächst auch hierin über ihn hinaus. Seinerseits nun ganz vorsätzlich, konstruiert er in einem von vornherein verkrümmten unendlichen Raum. Dabei ist die Unendlichkeit, wie er sie behauptet, nur flüchtig besehen unendlich. Auf die Probe von Verstand und Gefühl gestellt, erweist sie ihre Begrenztheit. Ein paarmal wird das sogar offen eingestanden.
«In einer Epoche der Vollendungen leben mit erhabenem Sinn / Ist zu schwierig leider. Man streift der Schönen den Rock hoch / Und sieht, was man suchte — und kein Wunder. / Und nicht daß man rechnete wie Lobatschewski — / Die geöffnete Welt muß sich ja wieder schließen, und hier — / Hier ist das Ende der Perespektive.»
Die Unendlichkeit findet ihre Grenze an einem bezeichnenden Punkt. Ein Weiter gibt es tatsächlich nicht. Ende der Perespektive.
7
Betonung des Rationalen und Ablösung der Dichttechnik von der Seele des Dichters, die ganze neuere russische Poesie ist davon durchdrungen. Daß Majakowski darin weiterlebt, bestätigt sich am stärksten im verstärkten Weiterleben jener neuen Ästhetik, deren Begründer und Künder er war.
Ironische Maske statt Ausdruck seiner selbst, grammatikalische Kompliziertheit statt bildliche Dichte, dazu des Lesers Vergnügen an virtuoser Technik anstelle des Wunsches nach Mitautorschaft und Katarsis. Dieser Weg ist sichtlich zur Magistrale geworden, daher müssen wir damit rechnen, daß selbst beste — oder gerade beste, große vielleicht — künftige Dichter ihn gehen werden, indem sie der tieferen Stimmigkeit von Wort und Bild die wirkungsvolle äußere Stimmigkeit der Formel den Vorzug geben. Hoffen wir, daß es nicht geschieht, ich fürchte, es wird geschehen.
Majakowski ist wie der Sog eines Trichters; wer sich ihm nähert, wird aufgesaugt. Selbst sein tragisches Schicksal hat etwas gefährlich Verführerisches, zeigt es doch, daß man unbekümmert, aus voller Brust, mit ganzem Talent der Unwahrhaftigkeit dienen und dabei doch so etwas wie ein Märtyrer werden kann, oder zumindest jemand, dem unbedingtes Mitgefühl gebührt. Für Mitgefühl gibt es ja keinen strengen Rahmen, und würde das weite Leserherz es über sich bringen, sein Mitgefühl rechtzeitig zurückzunehmen und mit Ablehnung zu ersetzen? So beginnen Worte von Majakowski, einst mit höchstem Pathos gesprochen, jetzt aber nur noch für Anekdoten tauglich, für bittere Anekdoten über eine bittere Zeit — so beginnen diese Worte im Kopf und Munde des Intellektuellen ihre alten Ansprüche zu erheben, und bald ist es wieder soweit, daß sie, diese Worte, für den authentischen Ausdruck einer Zeit, wenn nicht für Wahrheit gehalten werden.
Unser Verhältnis zu Majakowski wird immer zwiespältig sein. Wer den einen Majakowski wählt, wird den andern umgehen oder aussondern, auf Schritt und Tritt aussondern müssen, sich der Undankbarkeit dieses Tuns bewußt und des Erfolges ungewiß.
Wäre es da nicht redlicher, auf die Wahl zu verzichten?
Wladislaw Chodassewitschs schonungsloser Nekrolog ist in manchem objektiv ungerecht, subjektiv aber nur allzu begreiflich. Chodassewitsch schrieb keinen Artikel, sondern sprach eine Beschwörung, ein eigenwilliges «Weiche von mir!» Zu einer anderen Zeit — vorsichtiger, verhaltener, mit schlechtem Gewissen — hat Boris Pasternak ein gleiches getan.
Majakowskis Anziehung muß früher oder später seine Abstoßung folgen, das gebietet allein schon das Gesetz der Selbsterhaltung. Auch deshalb wird die große Bedeutung seiner Erscheinung keiner bestreiten können.
Im Grunde hat Majakowski ein Unmögliches geleistet. Er bewegte sich in einer Schicht hohler, fruchtloser Begriffe, hantierte mit der oberflächlichen Bedeutung des Wortes und den Hüllen von Menschen und Dingen und brachte es dennoch zuwege, diese seine verlorene Sache auf die Höhe von Poesie zu erheben. Eine Höhe nicht der Qualität, nein — an dieser Grenze läßt sich nicht rütteln -, sondern der Geometrie nach. Sein Gipfel ist grau und kahl, schenkt dem Blick weder Erbauung noch Andacht, doch weithin sichtbar, ragt er über viele Nachbarn hinaus.
So wird es bleiben, ob wir wollen oder nicht. Das macht seine Einzigartigkeit aus, seine sonderbare Größe, seinen unabänderlichen Ruhm.
Moskau, 1980-1983
Anmerkungen
1) Fortsetzung aus «Studio» Nr. 7.
2) muraw — die Ameise. Anspielung auf das Poem «Wunderland Murawien» von A. Twardowski.
3) Heute ist die Version im Schwange, damals, im April 1930, sei das tatsächlich geschehen, à la: der Abschiedsbrief ist eine Fälschung von Brik, Veronika Polonskaja wurde gezwungen, ihr Zeugnis auf die Wünsche der Tscheka auszurichten, und der Ausspruch «der Selbstmord war Mord» gilt im direkten Sinne des Wortes. Natürlich bezweifle ich keine Sekunde, daß unsere tüchtigen Organe jederzeit fähig und willens waren, dergleichen zu tun, bin jedoch sich
er, daß sie es nicht getan haben. Nein, Majakowski wurde nicht, er hat sich getötet. Argumente und Indizien dafür gibt es viele. Vor allem, damals wäre es keinem von Nutzen gewesen, denn wem stand Majakowski im Wege? Er war krank, gebrochen, schwach und gefügig. «Immerhin ist er aber Mitwisser gewesen …» Wenn er etwas gewußt hat, so nur sehr wenig; ihn zu beseitigen hätte keinen Sinn und Verstand gehabt, und es nur so, für alle Fälle zu tun, dafür war die Zeit noch nicht reif. Bedenken wir auch seine alte Manie und die Suizidstimmung am vorletzten Tag. Besonders überzeugend beantwortet diese Frage aber der Wortlaut des Briefes. Wohl hätte Brik die Unterschrift fälschen können — der Stil, die Stimme, die wir untrüglich heraushören, sind unnachahmlich. Nein, nicht schuldig! Und die Aufzeichnungen der Polonskaja können schon deshalb nicht im Auftrag verfaßt worden sein, weil sie erstens der Art und dem Inhalt nach keinem Auftraggeber günstig gewesen wären und weil sich zweitens solche Einfalt in einem schriftlichen Text ebensowenig vortäuschen läßt wie Talent. Und schließlich, bei Mord hätte es mindestens vier direkte und indirekte Zeugen gegeben (die Nachbarn nicht gerechnet): Briks, Lawut und Polonskaja. Doch keinem von ihnen (einschließlich der Nachbarn) ist später ein Haar gekrümmt worden. Dieser (nachgerade erstaunliche) Umstand entkräftet am ehesten jenen kriminalistischen Verdacht. (J.K.)4) Verse hier und im weiteren in wörtlicher Übersetzung.
5) Gemeint ist A. Puschkin; puschka — die Kanone.
6) majak — der Leuchtturm.
7) Die Lücke zwischen diesen Kettengliedern wird von Zwetajewa geschlossen: «Anhalten konnte mich / die Welt nicht, / denn als einzige Gabe / habe ich den Göttern / abgerungen die des Laufs». (J.K.)
* * *
Übersetzt von Ilse Tschörtner