Опубликовано в журнале Студия, номер 7, 2003
Zehntes Kapitel1
Der Tod
1.
Und dieses Menschenkind, das den Tod und alles, was es ihm näher bringt, so heftig fürchtet und so beredsam preist, was das physische Leben zu verlängern oder zu erneuern verspricht, schreibt binnen zweier Tage einen Abschiedsbrief und schießt sich ins Herz …
Wir lesen die Geschichte im Bewußtsein ihres Endes, und dieses Ende tanzt vor unseren Augen und verschiebt die Schwerpunkte und den Blickpunkt. Jedes Leben endet mit dem Tod, aber nicht jedes führt dieses Ende selbst herbei. Er aber tat es und ließ uns mit der bestürzten, quälenden Frage «warum?» zurück. Der Punkt, den die Kugel setzte, ist zugleich auch der Punkt eines Fragezeichens, für ihn Lebensende, für uns der Anfang ratloser Überlegungen und Hypothesen. Ich vermute sogar, von den ersten Seiten an wird er das einzige sein, was den Leser wirklich gefangennimmt und alles darüber hinaus geduldig hinnehmen läßt. Er wird sich enttäuscht sehen müssen, es gibt keine Antwort darauf. Zumindest keine, die beschlossen läge in einem Satz, ohne unangreifbar zu sein und der Vertiefung und Verfeinerung zu bedürfen. Beweggründe sind überhaupt etwas sehr Rätselhaftes, die solch einer Tat und solch eines Menschen allzumal.
Ein Selbstmord geschieht fast immer unvermutet. Wer hätte gedacht, daß sich Marina Zwetajewa erhängen würde, zudem an solchem Ort und zu solcher Stunde. Als es aber geschehen war, wußte jeder, der ihr Leben, ihr Wesen und ihre Dichtung kannte, nicht nur einen, sondern mehrere Gründe zu nennen, deren jeder Grund genug war. Majakowskis Freitod kam insofern wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als keiner auch nur einen einzigen Grund dafür wußte. Daher beeilte sich jeder, gleich mehrere aufzuzählen, alle möglichen Ärgernisse anführend, die Majakowski widerfahren waren. Aber auch zusammengenommen ergeben sie keinen Grund. Der Ausstellungs-Mißerfolg, die Abwesenheit der Briks, die Heirat der Jakowlewa, der Bruch mit dem Ref2, der Durchfall von «Schwitzbad» und schließlich _ die Grippe …
Ich weiß noch, wie wir uns einst in der Schule skeptisch zublinzelten, als der Literaturlehrer diese vielbemühte Grippe erwähnte: Siphylis? (Zumal erst vor kurzem ein uns ganz unverständliches Gedicht dieses Titels durchgenommen worden war.) Wie kann man auch ernsthaft von Grippe als Selbstmordgrund sprechen.
Eine Siphylis ist sicherlich auszuschließen; daß solch ein Verdacht aufkommen konnte, hat aber durchaus seine Logik. Er rührt von Majakowskis Person her, dem Maskenhaften, Schillernden an ihr, der Zwielichtigkeit, in der sie sich darbot bis hin zu den schrecklichsten, tragischsten Augenblicken ihres Lebens.
Doch nicht nur wir Schüler _ gebildetste, talentierteste Leute ließen sich von dieser Zwielichtigkeit hinters Licht führen. Die arme, wunderbare Zwetajewa, wie stets aufs äußerste wahrhaftig, klar und entschieden, dabei von einer Liebe zur Linguistik beseelt, wie sie nur ihr eigen sein konnte, warf der Welt das Wort vom Selbstgericht hin _ vom Gericht des Dichters über sich selbst als einzigmöglichen Gericht über den Dichter. Viel später sprach Pasternak es fast wörtlich nach und wußte sich Juri Annenkow sogar zu erinnern, daß Majakowski vor seiner letzten Heimreise sinngemäß zu ihm sagte: Du hast es gut, du kannst in Paris bleiben, ich muß nach drüben, zu denen …
Bulgakow hat recht: Wer schreibt rührseliger als die Frauen? Höchstens etliche Männer.
Dem klugen, bissigen Chodassewitsch wollte keiner Gehör schenken: zwar klug, doch bissig! Die romantische Legende von der großen Reue hatte die Gemüter erfaßt und die Stimmenmehrheit gewonnen, was in den Hauptzügen so aussah:
Ein großer Dichter, einer politischen Macht gehorsam, mit der er sich in bestem Einvernehmen befindet, den Rede- und Lebensstil, das ferne Ziel, die Ansichten zum Tage und die Maximen des politischen Handelns teilt (eine Abwandlung: mit der er nie ganz warm werden kann, hin- und hergerissen von Wahrhaftigkeit und erzwungenem Dienst) _ diesem Dichter wird plötzlich bewußt, daß alles ganz anders ist als es sein sollte. Wie sollte es sein? Eben ganz anders. Nieder mit der Unfreiheit des Wortes und der Presse, der Mißachtung der Menschenrechte … Er erkennt, daß sein ganzes Leben und Lebenswerk umsonst war, er sich grausam geirrt und, indem er mitmachte, auch noch schuldig gemacht hat. Und kommt zu dem Schluß, daß ihm nichts anderes übrigbleibt, als Reue zu üben und Gericht über sich zu halten …
Diese Erklärung ist ein gutes Beispiel für eine besondere Art Selbsttäuschung, wie sie nicht selten vorkommt: ein aus der eigenen Lebenssicht und -erfahrung gezogener Schluß wird auf ein fernes fremdes Objekt übertragen.
Um es gleich zu sagen, hier müssen wir der liberalen Intelligenz widersprechen und mit einsamer Stimme einstimmen in die offizielle Sowjetkritik.
Wie hätte die Realität seines Umfeldes ihn enttäuschen können, da er nur sie und keine andere kannte? Er war Bein von ihrem Bein _ ihren Verhältnissen, ihrer Sprache, ihren Bestrebungen und Wertmaßstäben, wie sie verwerfen, ohne über sie hinausgedrungen zu sein?
Auch seine Westreisen haben daran nichts geändert; sein Bannkreis, gezogen von jener äußeren Macht, lag in Moskau und hatte seinen Blickwinkel fixiert. Unter diesem Blickwinkel sah er sowohl an den tropischen Sternen vorbei als auch an allem, was ihm selbständige Gedanken hätte eingeben können. Mehr noch, seine Abhängigkeit, sein Getragensein von dieser Macht ist ihm nirgends so spürbar gewesen wie im Westen. Der rauschende Erfolg seiner Auftritte, der die goldenen Tage des Futurismus wiederaufleben ließ, schlug nicht allein ihm zu Buche, sondern dem ganzen großen Land, dessen Namen er vertrat. Von einigen Momenten abgesehen, ist hier der sehr seltene Fall gegeben, daß sich die pompöse offizielle Formel und die Wahrheit treffen.
Die von vielen westlichen Kritikern gezogene Parallele zwischen Majakowski und Jessenin stellt die beste Widerlegung der Reue-Hypothese dar.
Jessenin _ ja!, Jessenin hat wirklich versucht, sich anzupassen, sich in das Eisenkorsett des Dogmas zu zwängen und zu verbiegen. Es ist ihm nicht gelungen. Und es gelang deshalb nicht, weil er, welch furchtbare Eigenschaften er auch gehabt haben mag, in erster Linie ein lebendiger Mensch war. Jessenin ist wirklich verzweifelt, hat wirklich bereut und sich und die Seinen gequält. Doch seine Verzweiflung und Qual wurden von der gesellschaftlichen Lüge nur oberflächlich berührt. Die innere Welt ist ihm wichtiger als die äußere gewesen. Die politische Macht widerstrebte ihm bis ins Mark, sie indes biß sich an ihm die Zähne aus. Ja, er versuchte sich anzupassen und sich zu verbiegen, tat es aber so unbeholfen, mit so viel verräterischen Versprechern, daß es mißlingen mußte. Denken wir nur an sein Gedicht über die Sachwalter Lenins: «Noch härter und düsterer / tun sie sein Werk …»3
Natürlich ist man zu sagen versucht, Staat und Gesellschaft hätten ihn in den Tod getrieben. In dieser Ausschließlichkeit trifft das aber auch bei ihm nicht zu. Schlecht ist es ihm aus vielerlei Gründen gegangen, u.a. diesem. Sein Hauptkonflikt lag in ihm selbst begründet. In Europa und Amerika hatte er schließlich nicht weniger getrunken, nicht weniger randaliert, um sich geschlagen und sich den Kopf an der Wand zerschlagen als in Rußland. Er trug seine Tragödie in der eigenen Brust. In seinen Gedichten der letzten Jahre und besonders seinem letzten Poem ist ihr ganzes Ausmaß enthalten: Reue, Schwermut, Depression, Verzweiflung und fast täglich eine Absage an das Leben. Dafür aber _ auch das ein Unterschied zu Majakowski _ weder die Benennung von Feinden noch Klagen über Alltagsärger oder irgendwessen Ungerechtigkeit. Selbst seine knappe Benennung des Handlungsortes: «dieser Mensch lebte im Land der fürchterlichsten Großschnauzen und Scharlatane» erscheint nur als Hintergrund, nicht als Versuch einer Selbstentlastung. Es war in der Tat ein Gericht über sich selbst; hätte Zwetajewa ihr Wort auf Jessenin bezogen, wäre es richtig am Ort gewesen.
Majakowski dagegen ist immer ein Schema geblieben, bei jedem Höhenflug ein Konstrukt. Das herrschende Dogma bedrängte ihn nicht, sondern verlieh ihm Festigkeit, den nötigen Halt, die berühmte unbeugsame Wirbelsäule.
Gewissen oder Gewissensnot wird man bei ihm vergeblich suchen; Reue und Schuldgefühl waren ihm ein Begriff wie von einem anderen Stern. D.h., ein solcher Begriff klang bei ihm zwar ein paarmal an, doch in einem ganz anderen Sinn _ im Sinne nicht von Gewissensnot, sondern von schlechtem Gewissen vor der politischen Macht wie einem strengen gerechten Vater, eine Erscheinung, die die Zeitungen mit den Schlagworten «heuchlerisch» und «ehrlichen Herzens» zu begleiten pflegten.
Sein Leid war stets das Leid einer Kränkung, nie der Reue oder Schuld.
Enttäuschung? Wovon? Was hätte ihn wohl enttäuschen können, unseren unermüdlichen Sänger der Unfreiheit, der zeit seines Lebens zu unterdrücken, zu unterbinden, zu beseitigen aufrief? Daß es wirklich geschah? Oder hat er sich plötzlich umgeblickt (als Briks nicht da waren) und sich gesagt: das geht zu weit? Wie weit hätte es denn gehen dürfen? Bis zu welchem Augenblick, welcher Maßnahme, welcher Kopfzahl? Um uns weiteres Fragen zu sparen _ so war es nicht. Ich für mein Teil habe auch erhebliche Zweifel an jenen vereinzelten nachträglichen Zeugnissen, die ihm den Anstrich eines zerquälten Skeptikers geben. Selbst wenn sie stimmen, halte ich es für müßig, einige wenige unklar gemurmelte Worte all dem entgegenzusetzen, was wir authentisch über ihn wissen, was sein Leben anfüllte bis in die letzten Tage hinein.
Weder in seinen Gedichten, Aufsätzen und privaten Briefen noch bei seinen Auftritten, nirgends ist auch nur der Hauch eines Hinweises darauf zu finden, daß ihn Enttäuschung oder gar Reue und Schuldgefühl zu schaffen gemacht hätten.
«Anstatt, Genosse, / sich zu erbauen an / friedlichen Tagen, / wirf / die Großmut / weg in den Schutt. / Bedenke, Genosse: / der Klassenfeind / wühlt / unter uns allen» (Hervorhebung von mir).
Solche Aufrufe, etwa mit genauen Fahndungsempfehlungen, woran der Kulak und Schädling zu erkennen ist unter der Maske des löblichen Bürgers, schrieb er nicht nur 1918, sondern auch noch in dem reiferen Jahr 28. Und 1929 («für die wahrhafte Front / Coupé und Kajüte») die rührende Ode eines frei Reisenden an alle, die ausweglos festsaßen. Dazu den nie verstummenden Schrei: «Hinweg / aus dem Leben / die beiden Opiate / Gott und Alkohol!» Das also ist es, was ihn stört an dieser wunderlichen Zeit. (Oder ist es nicht? Heuchelt er? Das soll kein Einwand sein; wir wollen uns damit begnügen, was wir haben.) Schließlich, eines der letzten Gedichte:
«Enthusiasmus, / sprieße, gedeihe / und dauere an / in regenbogenhohem / Fabrikleuchten. / Heute / erhebt sich der Sozialismus / lebendig, wirklich, / groß und wahrhaftig.»4
Anfang Januar 1930 erklärt er in einer öffentlichen Versammlung: «Was mir befohlen wird, ist gut und richtig. Nur möchte ich, daß mir nicht befohlen wird.» Das klingt wie die Nachauflage eines seiner jüngsten Verse:
«Ich will, / daß bei Werktagsschluß / das Werkkomitee / meinen Mund / hinter Schloß und Riegel.»
Ende Januar wird er ins Bolschoi Theater eingeladen (befohlen), sein Lenin-Poem vorzutragen. Er freut sich darauf, äußert aufgeregt, hochgestimmt: «Das Politbüro kommt … Stalin kommt … Vielleicht der wichtigste Auftritt in meinem Leben.» Der Vortrag hat viel Erfolg, aus der Regierungsloge wird ausgiebig Beifall gespendet.
Im Februar stellt er eine Liste der für die Ausstellung einzuladenden Personen zusammen und trägt als erstes Mitglieder des Politbüros und andere hohe Parteikader ein.
Am 20. März hat er einen Auftritt im Radio, rezitiert antireligiöse Gedichte.
Am 7. April unterzeichnet er einen anläßlich der «böswilligen Ausfälle des römischen Papstes» verfaßten offenen Brief mit dem Titel «An die Schriftsteller der Welt». Der Papst hat erklärt, in der UdSSR würden Kultur und Religion unterdrückt.
Er plant für Ende April eine Reise zu einer landwirtschaftlichen Kolchose und verhandelt darüber mit irgendwem, kann sich aber noch nicht entscheiden, ob er sich einer Autorengruppe anschließen oder lieber allein fahren will. Ein Viktor Kien lädt ihn beharrlich in seinen Kreis der hundertprozentigen Kollektivierung ein … Doch am 11. bleibt er seiner Vortrags-Veranstaltung fern, am 12. schreibt er den Brief, und am Morgen des vierzehnten, kaum daß Polonskaja die Tür hinter sich geschlossen hat, er muß gewußt haben, daß sie noch in Hörweite ist und zurückkommen wird _ in diesem Augenblick dieses Morgens greift er mit der Linken, weil er Linkshänder ist … Wäre es mit der Rechten nicht trotzdem leichter zu machen gewesen? …
Eins von beidem, müssen wir uns sagen: entweder es sind in wenigen Tagen alle seine Positionen zusammengebrochen oder es gab einen anderen Grund.
2.
Majakowskis Abschiedsbrief, letzten öffentlichen Worte. Gehen wir ihn noch mal durch.
An ALLE!
Daß ich sterbe, dürft ihr keinem zur Last legen, und bitte _ macht keinen Klatsch daraus. So was ist dem Verstorbenen furchtbar unlieb gewesen. Mutter, Schwestern und Genossen, verzeiht _ das ist keine Art (empfehle sie keinem), doch ich habe keine Auswege mehr.
Lilja _ liebe mich.
Genosse Regierung, meine Familie sind Lilja Brik, meine Mutter, meine Schwestern und Veronika Witoldowna Polonskaja. Wenn du ihnen ein leidliches Leben bereitest _ danke. Die angefangenen Verse gebt Briks, sie kennen sich aus.
Wie man so sagt _
«der Fall ist gepfeffert»,
der Liebeskahn
ist am Alltag zerschellt.
Ich bin quitt mit dem Leben,
kein Aufrechnen nötig
der einander verpaßten
Schmerzen,
Leiden
und Beleidigungen.
Lebt wohl.
Wladimir Majakowski
12. IV. 30
Genossen Wappzen _ ihr dürft mich nicht für kleinmütig halten.
Es ist ernst _ nichts zu machen.
Gruß.
Jermolow bestellt: schade, daß ich die Losung abgenommen habe, hätten uns anständig raufen sollen. W.M.
In meinem Tisch sind 2000 Rub. _ gebt sie der Steuer. Die übrigen bekommt ihr vom GIS5. W.M.
Diese Lektüre löst zweierlei Furchtgefühl in uns aus. Das eine steht zum Inhalt oder richtiger zu Aussage, Ort und Zeit in nur loser Verbindung. Es ist allumfassend und springt uns aus jedem und wenn noch so beliebigen, zufällig gewählten Wort an. Ein Mensch will sich umbringen _ eine furchtbare Sache. Und er spricht es aus _ egal dabei wie. Er erörtert die Umstände klar und bewußt, bereitet sich diese Marter … Wieviel furchtbarer schon.
Das andere ist nicht schwächer _ das Gefühl, keinen Haltepunkt zu finden, im Leeren zu tasten und sich zu verlieren, im Grund- und Bodenlosen hängenzubleiben.
So ist es vielen damals gegangen. Selbst Demjan Bedny in seinem Nekrolog hat hinsichtlich des hinterlassenen Briefes etwas von «grausiger Bedeutungslosigkeit» gemurmelt. Uns freilich ist es nicht um Bedeutsamkeit, sondern um Echtheit, Ernsthaftigkeit zu tun _ um die Übereinstimmung des Geäußerten mit dem Menschen, der sich geäußert hat, jenen Punkt, an den wir immer wieder gelangen, wenn wir Majakowski zu verstehen versuchen. Ein Abschiedsbrief vor dem Tod, ein letzter Aufschrei _ wie wären hier, sollte man meinen, Tarnung, Versatz, Vorgeblichkeit möglich, hier kann der Mensch nur mit ganzem Wesen, aus tiefstem Innern sprechen. Doch nein, es ist etwas anderes, was spricht. «Alexander Iwanowitsch, Alexander Iwanowitsch! … Aber es war kein Alexander Iwanowitsch da.»
Natürlich läßt sich auch umgekehrt sagen, daß dies durchaus seine Folgerichtigkeit hat, er sich selbst treugeblieben ist bis zuletzt. Doch halt -»selbst» stimmt auch wieder nicht. Ein solches «selbst» gibt es nicht, ein solches «ich» gibt es nicht. Einen solchen lebendigen Menschen (der er in diesem Augenblick ja noch war …) kann es nicht geben. Er ist seiner Maske treugeblieben, seinem Maskensystem.
Der ganze Kehricht der Epoche, des Epochenalltags hat sich in diesem Brief festgesetzt.
«Genossen Wappzen … Jermilow bestellt … anständig raufen …»
Kanzlistengeschäftigkeit, Sitzungshumor. Alles auf der Welt hat er an seinem Platz belassen, nichts auch nur einen Zentimeter verrückt.
«Genosse Regierung … Wenn du …» So schön familiär. Artiger Genossenstil, à la: wir sind ja alle gleich.
Wer konkret ist sein Adressat? Der einstige Volkskommissar für Bildung Anatoli Lunatscharski, erst kürzlich abgesetzt wegen seiner liberalen, von Majakowski so oft angegriffenen «Lunatscharskerei»? Oder Stellvertreter Rykow, der soeben öffentlich heuchlerische Reue bekundet hat und sich anschickt, seine zu schwer gewordene Aktentasche dem begierig neben ihm schnaufenden Molotow zu übergeben? Oder gar Stalin, dieser doch wahrlich unerschütterliche Fels? Da hätte er die Anrede anders gehalten, wenigstens so: «Genosse ZK», wie es später ein Nachfolger tat. Oder ist es eine so abstrakte, allumfassende Figur, daß man besser «Genosse Sowjetmacht» sagte? Nur geht es hier nicht um ein Glaubensbekenntnis, sondern um eine konkrete, praktische Bitte: der Familie ein leidliches Leben zu bereiten _ was soviel wie Verteilung des Erbes heißt.
Aber ach, wir werden kein Licht in das Dunkel bringen; denn auch sein Abschiedsbrief enthält keine Wahrheit bzw. enthält genausoviel Wahrheit wie seine ganze Person.
Nichts ist so, wie es vorgibt zu sein, hinter jeder Maske lugt die nächste hervor, und selbst sein Lebensabschieds-Gedicht hat er nicht im Lebensabschied geschrieben, sondern einige Zeit vorher und zu einer ganz anderen Situation. Herausgegriffen aus einem Poementwurf, wurde es in einem Punkt verallgemeinernd verändert: «Ich bin quitt mit dem Leben …» Dadurch diese gewisse Unverständlichkeit der «einander ver-paßten Schmerzen, Leiden und Beleidigungen». Der Urtext war in einem Punkt anders, was bei einem Gedicht grundlegend anders bedeutet.
«Schon zwei Uhr nachts. Du wirst schon schlafen. / Der Milchweg durch die Nacht _ ein silbernes Auge. / Ich dränge nicht, wozu mit Telegrammblitzen / dich wecken und erschrecken. / Wie man so sagt _ "der Fall ist gepfeffert", / der Liebeskahn ist am Alltag zerschellt. / Ich bin quitt mit dir, keine Aufrechnung nötig / der einander verpaßten Schmerzen, Leiden und Beleidigungen» (Hervorhebung von mir).
Das wurde im Sommer 1929 geschrieben und meint wahrscheinlich Polonskaja.6 Das «einander verpaßten» unterstreicht den nonchalanten Charakter des Gedichts und stellt zusammen mit dem bekannten Kalauer «ispertschen» _ gepfeffert (statt «istscherpan» _ beigelegt) und dem verfremdenden «Milchweg» (statt Milchstraße) eine gelassene Feststellung dar, die allenfalls einen ironischen, doch keinen tragischen Tonfall hat.
Im April 1930 brauchte er plötzlich einen anderen Inhalt, so tauschte er ein Wort aus.
Also, weder der Brief noch das Gedicht in dem Brief geben uns Aufschluß über seine seelische Verfassung, geschweige denn seine Beweggründe.
Freilich ist es nun Zeit, uns die Müßigkeit, Vermessenheit und den abscheulichen Pragmatismus unserer Ansprüche einzugestehen. Selbst wenn ihm die Gründe bewußt waren _ wozu sie ausposaunen? Unserm Wissensdrang, Seelenfrieden zuliebe? Er verwirft diese Welt und will sie verlassen, da kann er es sich wohl schenken, sich noch auf sie einzulassen, sich die Brust vor ihr aufzureißen. In diesem Augenblick, vielleicht dem einzigen seines Lebens, ist er moralisch berechtigt, sie zu verachten, auf sie zu pfeifen, auf sie zu spucken. Doch gerade das hat er nicht getan! Etwa _ na schön, irgendwas hinschreiben, ihnen hinwerfen, die Klatschmäuler stopfen mit ein paar Brocken … Warum dann «Genossen Wappzen», die Mitteilung an Jermilow und der Ausschnitt aus einem alten Gedicht, kurz abgeändert wie eine leere, hier aber noch verwertbare Hülle?
Und doch hat er sich erschossen, hat es wahrgemacht ohne Trug. Er schrieb «ich sterbe» _ und ist gestorben, und diese schreckliche Wahrheit wiegt unvergleichlich mehr als alle früheren kleinen und großen Unwahrheiten zusammen. Und die Gründe … Wenn wir Geduld walten lassen und nicht allzu geradlinig vorgehen, wenn wir bereit sind, auch einer Teilerklärung zu folgen, kann es gelingen, das Dunkel hier und da zu durchdringen, zumindest uns den Zustand begreiflich zu machen, in dem er sich in seinen letzten Tagen befand. Hauptsache dabei _ nicht nach Neuem haschen und sich nicht scheuen, Bekanntes zu wiederholen.
Der Ausstellungs-Mißerfolg, die Abwesenheit der Briks, die Heirat der Jakowlewa, der Bruch mit dem Ref, der Durchfall von «Schwitzbad» und schließlich die Grippe …
3.
«In jenem Jahr war der große Dichter von Feinden umstellt, die Druck auf ihn ausübten, ihn in einen psychischen Schraubstock spannten (vieles davon wissen wir nicht), und der Selbstmord am 14. April war Mord.»
So Lawinskaja.
Was sind das für Feinde gewesen, und wer im einzelnen _ sofern Lawinskaja und all den andern, die sie Wort für Wort wiederholten, zu glauben ist _ hat Majakowski ermordet?
Von Feinden umstellt, das kann ihn nicht sonderlich erschüttert haben. Sein Leben lang lag er mit Feinden im Krieg, zahllosen, sowohl wirklichen als auch _ und zwar vorwiegend _ vermeintlichen. Seine Daseinsform. Mehr vielleicht als in allem anderen, war er hierin ein treues Ebenbild seines Staates.
Im März, April 1930 hatte sich die Schar seiner Feinde in der Tat stark vergrößert, da fast alle Freunde zu ihr übergelaufen waren. Jede neue Spaltung des Lef7 brachte welche hinzu, entscheidend sind jedoch zwei Dinge geworden: die Ausstellung und sein Übertritt zur Rapp8.
Er wollte eine eigene, personelle Ausstellung machen, die vom Ref forderten eine kollektive. Anfangs schien alles noch mal ins Lot zu kommen. Im Dezember, anläßlich seines Jubiläums ließ man in der Brik-Wohnung, Gendrikow-Gasse, ein großes Fest steigen, eine Fete mit allem Drum und Dran: Girlanden, Plakate und Spruchbänder, spaßige Kostüme, Komsomolspiele und Sekt (den mitzubringen der Jubilar allen aufgetragen hatte; streng bat er sich aus, mindestens mit einer Flasche pro Person, nicht etwa nur einer pro zwei zu erscheinen). Ausgelassen wurde eine Kantate mit Kirsanow-Versen gesungen:
«Hochauf steigt der Kantate Schrei, / den Ton gab an Genosse Brik. / Wladimir Majakowski, / deine Moskauer Freunde / singen dir heute Lob und Preis, / hurra, hurra, hurra!»
Es wurden Scharaden, Sketche aufgeführt, Scherzreferate gehalten, törichte Trinksprüche ausgebracht. Nicht mehr und nicht weniger Geschmack und Abgeschmacktheit als bei anderen Lef-Abenden auch. Besonders nur ein, zwei Details. Meyerhold hatte außer dem gewünschten Sekt noch Theaterkostüme und -masken herbringen lassen. Davon suchte sich jeder aus, was ihm gefiel und entsprach. Majakowski eine Bocksmaske. Mit der setzte er sich rittlings auf einen Stuhl und begann herzzerreißend zu meckern. Die maskierte Gesellschaft applaudierte.
Der einzige Unkostümierte war Pasternak. Eine langwierige Verstimmung überwindend, kam er vorbei, um Majakowski zu gratulieren und ihn seiner Freundschaft zu versichern, wofür er mit Schimpf und Schande davongejagt wurde; unter Tränen, ohne Mütze zog er wieder ab.
«Soll er doch gehen», sagte Majakowski finster, nahm die geliehene Maske ab und behielt nur noch die eigene auf. «Von mir kann man die Leute nur samt Haut und Fleisch abspalten …»
Doch bei der Ausstellungs-Eröffnung einen Monat darauf hat sich außer Brik keiner vom Lef blicken lassen und erschien von den alten Freunden nur Schklowski. Ob samt Haut und Fleisch oder ohne _ man hatte sich abgespalten.
Am 8. Februar veröffentlichte Kirsanow, sein «Hurra, hurra, hurra!» lag noch in der Luft, eine wütende Abfuhr an den Freund und Verräter: «Die Hand mit Bimstein schaben, mit Benzin waschen, um seinen Händedruck wegzubekommen!» (Jedoch: bei der Trauerfeier am 17. April trat er auf den Balkon und trug mit tränenbrüchiger Stimme «Mit ganzer Stimme» vor. So war sie nun mal, diese Gesellschaft, reihum zum Küssen. Der Beerdigungskommission saß Artjemi Chalatow vor; noch vor zehn Tagen hatte er Majakowskis Porträt aus der gesamten Auflage von «Presse und Revolution» entfernen lassen.)
Doch weder die Freunde, die sich in Feinde, noch die Feinde, die sich in wachsame Freunde verkehrten, hätten jenen «psychischen Schraubstock» ausmachen können, von dem die Biographen erzählen. Sie alle waren nur eine Folge, nichts als ein Barometer, das Prozesse höherer und mächtigerer Natur anzeigte.
Majakowskis letztes Lebensjahr war in der Geschichte des Staates ein Umbruchjahr sondergleichen. Ein gewaltiges Massiv, worin es allenfalls Gradstufen gab. In dem größten Land der Erde hatte sich die größte Macht der Geschichte in den Händen des größten Schurken der Welt geballt. Unter dessen hypnotischem Blick fallen die Karriere-Rivalen übereinander her, beißen, zerfleischen einander. Trotzki, erschöpft und entmachtet, wird außer Landes geprügelt; Rykow und Tomski straucheln aufs Grab zu; Bucharin gesteht und bereut seine perversen pazifistischen Neigungen. Die flächendeckende Kollektivierung geht über Land, und fünfundzwanzigtausend städtische Aufseher werden beordert, in den Dorfplantagen Ordnung zu schaffen. Der Übergang zur neuen sozialen Formation geht mit einem gewaltigen Aufbauwerk einher, und die zarten Linien der künftigen Kanäle beginnen sich bereits, damit gemästet, was ihnen zusteht, fett abzuzeichnen.
Stalins erster Fünfjahrplan strebt seinem Sieg zu, die zusammengestampfte Basis erhält ihren Überbau. Endlich treten die phantastischen Brik-Lewidow-Thesen als Leitfaden allen Handelns in Kraft. Jede Kunst ist konterrevolutionär. Lewidow hatte einst «nichtfuturistische» eingefügt, doch das leuchtende Wort Futurismus ist längst verblaßt und verblichen. Jede! Die allgemeine Nivellierung und Unifizierung, der Marsch in die Austauschbarkeit des Menschen haben begonnen. Der eine wird gedrückt, der andere erhoben.
So, da kommt nun dieser Majakowski daher. Sagen Sie selbst, was fängt man mit so einem an?
Nein, jede höhere Politebene weiß natürlich gewiß, daß ihm nicht am Zeuge zu flicken ist _ von Widerstand oder nur stillem Zweifel keine Spur. Doch hat er trotzdem ein Problem. Wie es mit einer so auffälligen Person zuzeiten der flächendeckenden Kollektivierung halten, einer, nach der sich die Droschkenkutscher umdrehen, die Fußgänger mit dem Finger zeigen, sich ihren Namen zurufend über die Straße, mit der Person Majakowski, die mit Wuchs und Stimme, mit jedem Wort, und sei es nur aus der Zeitung gepickt, hervorsticht aus jeder Menge? Was hilft’s, daß sie Ergebenheit schwört und so gut es nur geht auch beweist, wenn allein schon die Tatsache ihrer Existenz die neue Ordnung der Dinge stört? Majakowski ist zu laut, zu unübersehbar, zu aufdringlich, alle nasenlang platzt er ins Blickfeld der Macht. Jede propagandistische Litanei holt sich in seinem Donnermund rettungslos den Makel der Originalität und Meisterschaft weg. Überdies tritt er als Führer auf, noch dazu großer, und erfüllt den schmählichsten Auftrag mit so stolzer, würdiger Miene, als wäre er seine eigene Idee. Aber was tun, mein Gott, so ist es nun mal: als Führer, zumal großer und noch lebender, kommt nur noch einer in Frage. (Unter dem aus «Presse und Revolution» geschmissenen Porträt hatte ein Grußwort an Majakowski gestanden, das ausgerechnet das Wort «großer» enthielt. Es gibt ein Zeugnis darüber, daß ebendieses «großer» Stein des Anstoßes wurde.)
Mitte Dezember erschien in der «Prawda» die ZK-Direktive «Über die Personalunion» und schon am 21., zu Seinem Fünfzigsten, ein erstes über alle Spalten flutendes Jubilate mit den Unterschriften zahlreicher berühmter künftiger Hingerichteter und Gedichten von Charow und Demjan Bedny. (Von Majakowski war nichts dabei, doch auch von anderen nichts, nur das. Hymnen nicht auf die Partei oder das Zentralkomitee sondern auf eine konkrete, lebende Person zu schreiben ist dazumal noch ein Novum gewesen. Noch hatte man die Losungen von der «Leninsche Schlichtheit» und der «unmaßgeblichen Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte» im Ohr. Eine neue Ära war angebrochen und wählte ihre Propheten nach ihrem eigenen Wesen aus. (Majakowskis Verse «Du gibst die materielle Basis» sollten erst später erscheinen, am 27., zusammen mit einer Stalin-Rede über die Liquidierung des Kulakentums, dem Gesetz über die Umsiedlung arbeitsscheuer Elemente und einer Meldung von der Erschießung der «Brandstifter-Popen».)
Tatsächlich sieht es so aus, als wäre zu genau dieser Zeit die Spitze des Landes oder sogar die Spitze der Spitze höchstselbst zu der Ansicht gelangt, daß ein Majakowski dieser Art nun entbehrlich, unter Umständen sogar schädlich sei.
Man kann dagegenhalten, daß es auch Dichter gab, die weniger treu ergeben, dabei nicht weniger begabt waren und dennoch weitergelebt haben. Eben, eben. Achmatowa ließ sich den Titel «Mitläufer» ruhig gefallen, schließlich hatte sie sich nicht zum proletarischen Dichter ernannt, sich nicht gerangelt um einen Platz in der Arbeiterschaft und damit nicht die Ordnung gestört. Sie blieb abseits, für sich, auf ihrem eigenen einsamen Platz. Sicherlich hätte die Reihe auch an sie kommen können, doch nicht schon jetzt, in dieser stürmischen restaurativen Periode, erst später.
Majakowski hingegen ist stets der Ihre gewesen, ihr Mann _ stramm in Reih und Glied, mit kahlgeschorenem Kopf, soldatisch, untadelig. Gleichzeitig hörte er aber nicht auf, den Wort- und Menschenführer hervorzukehren, den Klassikergeneral, womit er nicht nur aus Reih und Glied, sondern aus der Rolle zu fallen begann. In diesem ihm eigenen System, das seiner Psyche so gänzlich entsprach, hatte er sich selbst überlebt. Er war ein Anachronismus geworden, der allen immer mehr auf die Nerven fiel.
Nun scheint es nachgerade geboten, unsere Verbrüderung mit Perzow/Assejew und den Autoren der zornigen «Ogonjok»-Artikel wiederaufzunehmen und ebenfalls zu erklären: es begann eine Treibjagd. Doch das wäre die Unwahrheit. Getrieben und gejagt _ und dies im wahrsten Sinne des Wortes, wie Wild mit Hunden _ wurden die Vertreter der «neubourgeoisen» Literatur und einige andere, die «sich ihnen verdingt» hatten: Pilnjak, Tschukowski, Bulgakow, Samjatin, Mandelstam, Platonow … Jeder Artikel zu ihnen, jede öffentliche Äußerung (u.a. von Majakowski) gerieten zur Provokation und Denunziation. Eine Treibjagd auf Majakowski hat es nicht gegeben, nie im Leben, wozu fabulieren, es ist einfach nicht wahr. Zwar wurde er geschmäht, vorwiegend von der Rapp _ doch nicht mehr als sonst. Schmähung war er gewohnt, sie gehörte zu seinem Dasein, an ihr zog er sich hoch, von ihr stieß er sich ab. Was hatte sich also geändert? Geändert hatte sich dies: Hinter derselben Schmähung, doch besonders hinter dem jähen Schweigen und Verschwiegenwerden spürte er einen eisigen Hauch, den Atem der Macht. Seine geliebten Gesetze der Dialektik kehrten sich gegen ihn. «Alt? _ Totschlagen! / Her mit den Schädeln / als Aschenbecher!» Die Zeit der Solisten lief aus, die der Komsomolchöre brach an. Er wurde gedämpft, gedrosselt, auf kleiner Flamme gehalten, à la: entweder du machst einen Swetlow/Kirsanow aus dir oder wir werfen dich vom Dampfer der Gegenwart.
Die Ablehnung der Paris-Reise (gut, hier wollen wir uns auf kurz verbrüdern) war natürlich eine arge, schwerwiegende Sache. Womöglich gab sie sogar den Ausschlag. Sehen wir mal davon ab, welche Version zutreffen mag: ob Briks Einfluß nahmen auf ihre Tschekisten oder die Tschekisten selbst entschieden (wenn letzteres, so bestimmt nicht ohne Wissen der Briks9), und betrachten wir nur, wie stark sich dieser Umstand auf sein Befinden und das Verhältnis seiner Umgebung zu ihm auswirkte.
Neunmal hatte er die Staatsgrenze überquert; die Reisen in die Wege zu leiten, Absprachen zu Auftritten und persönliche Verabredungen zu treffen war ihm ein leichtes gewesen, alles ließ sich einen Monat voraus auf Tag und Stunde genau richten; das Reisevisum zu bekommen kostete ihn soviel wie irgendeinen Bourgeois im reaktionären Lettland. Und bums, eine Ablehnung. Zum erstenmal. Die Macht hegt Mißtrauen! Nichts schlimmer als das. Jene objektivste aller Mächte, die ihm so viele Jahre Statur und Fülle verliehen hat, scheint sich abzuwenden, sich zurückzuziehen, in ein unsichtbares Mauseloch zu verkriechen. Ein Schock. Zusehends verliert er die Fassung, fällt in sich zusammen wie ein Ballon, dem die Luft entweicht.
Er will es nicht wahrhaben, hastet umher, stellt auf die Probe, sucht Gegenbeweise, Gegenzeichen, irgendeinen Beschwichtigungswink und dies und das noch, was seine Polung wiederherstellen könnte, und läßt sich schließlich die Ausstellung einfallen _ «20 Jahre Arbeit», eine Ausstellung als Jubiläum, als Denkmal zu Lebzeit gemäß seinem Rang oder _ zur Wiederherstellung desselben …10 (Daß er mehrmals seine Abscheu vor Jubiläen bekundet hat, steht dazu in keinem größeren Widerspruch als alles andere zu allem andern.) Wortreich setzt er den Freunden auseinander, wie notwendig die Ausstellung sei. Doch seine heimliche Hoffnung, sie würden alle herbeieilen, ihm bei diesem Staatsakt behilflich zu sein, zerschlägt sich. Die Freunde lassen die Mundwinkel zucken, ein zustimmendes Lächeln miemend, doch die Hauptverwaltung für Kunstangelegenheiten, die Föderation der Schriftstellervereinigungen und andere in Frage kommende Stellen machen aus ihrer Gleichgültigkeit, ja Unlust keinen Hehl. Nach langem Hin und Her werden ihm ein kleinerer Raum und etwas Geld, viel weniger als nötig, zugebilligt. Er steuert aus eigener Tasche bei, bringt die Plakate selbst an, klebt, tüncht, hämmert selbst. Die Presse hüllt sich einmütig in Schweigen, schweigt sich sogar über den Eröffnungstag aus, schickt keine Beiträge. Eingeladen wurden hohe Vertreter von Partei und Regierung, doch nicht mal Bekannte bemühen sich her. Alles wankt. Seine Popularität ist immer noch groß, einfaches Publikum stellt sich reichlich ein, aber was ist das schon für ein Trost. Keiner. Wer wüßte besser als er, der größte Dichter der Massen, daß es die Massen nicht gibt, sie nichts sind als eine Schimäre, ein leeres Wort in Agitatorenmund. Ja, wenn die aus der Regierungsloge des Bolschoi Theaters gekommen wären, jene Handvoll, die noch unlängst so wohlwollend applaudierte … Noch unlängst, im Januar, hat er damit fest gerechnet. Doch sie bleibt aus. Was nicht ausbleibt, sind nur die Scharen unnützer Leute, die ihre Sprüche ins Besucherbuch schreiben, auch noch mit Angabe der Existenz: Sachbearbeiterin, Arzt, eine Taubstumme, Graveur, Dreher, Enteigneter, Koch …
Dazu die literarischen Einbrüche, hier kommt aber auch alles zusammen. Seit seiner Rückkehr aus Paris, ein Jahr ist es her, hat er ein Dutzend flacher Gedichte und ein mißlungenes Stück geschrieben. Das Stück ist mißlungen, das weiß er selbst, vor seinen wenigen verbliebenen Gönnern räumt er es bitter ein. Es enthält zwei, drei lebendige Figuren und einige eindrucksvolle, ja glanzvolle Stellen, die aber rettungslos untergehen im Gesamtschwulst der Dialoge, in der Hohlheit und Sterilität der positiven Figuren und vor allem der langweiligen stofflichen Aufbereitung. Die Monate Schwerstarbeit unter freiwilligem Hausarrest, als er sich täglich ein Pensum aufgab oder sich von Polonskaja aufgeben ließ _ diese ganze Katorga war umsonst. Kein Molière geworden, nicht mal ein Erdman (den er schwer _ und zu Recht _ beneidet).
Daß er kein wirkliches geistiges Anliegen hat, ist nie so kraß, so erschreckend deutlich geworden wie in diesem letzten Jahr. Die Möglichkeiten des Wortspiels, der sprachlichen Kombination sind ausgeschöpft, seine ganze mechanisch-geometrische, Euklidische Welt, längst ausgelaugt, will nichts mehr hergeben.
«Leergeschrieben.»
Argwöhnisch horcht er auf jedes Tuscheln, auf jede Spöttelei reagiert er heftig, überempfindlich. Er ereifert sich, zankt, rechtfertigt sich, gibt Erklärungen ab. Und seine einzige unstrittige Leistung des Jahres _ «Mit ganzer Stimme» _ wirkt, ungeachtet ihrer neugewonnenen Energie und Virtuosität, wie eine Bewerbung bei den gewissen Organen oder ein Versuch, sich wieder ins rechte Bild zu setzen.
Unter diesen Umständen ist sein Übertritt zur Rapp gewiß nicht als Zufall zu werten. Im Dezember 29 erschien in der «Prawda» ein Direktive-Artikel mit bereits allen Grundsätzen, nach denen die Literatur alsbald reglementiert werden sollte. Verschärfung des Klassenkampfs, Notwendigkeit der Konsolidierung usw. Fast gleichzeitig vollführte der weitsichtige Brik eine Wende in Richtung Awerbach. Majakowski sträubt sich zunächst, erkennt dann wohl aber auch, daß unter all diesen «Gebirgspässen», «Refs» und «Schmieden» die Rapp die einzige literarische Gruppe ist, die das Vertrauen der Macht genießt und daher das Zeug hat, Kopf des künftigen einigen Schriftstellerverbandes zu werden. Brik selbst bleibt vorerst im Hintergrund, wie stets, schickt Majakowski vor in den Ring _ mal sehen, was wird. Zusammen mit Lilja reist er nach London, abermals und für volle zwei Monate, also vermutlich nicht allein, um sich von den Hysterien des Freunds zu erholen, sondern um abzuwarten und zu sehen, woher der Wind weht.
Um diese Zeit findet eine Rapp-Konferenz statt; bei jeder Sitzung meldet sich Majakowski zu Wort und verdammt die «apolitische» Kunst. So gut er mit seinen geschmälerten Kräften kann, schürt er das Klima mit. Er beruft sich auf den Genossen Molotow, sich der Redefiguren von Anklageschriften bedienend, setzt sein ganzes polemisches Feuer ein für das «volle und ganze Ja», kaut denselben Tabak wie alle, ohne sich auch nur dem Ausdruck nach abzuheben, sich das kleinste Majakowski-Stückchen herauszunehmen.
Im Zirkus wird unterdessen eine Wasserfeerie nach seinem Szenarium geprobt, wo ein Kulak, Inbegriff des Bucharinschen Abweichlertums, sich liebedienerisch erbietet, friedlich in den Sozialismus hineinzuwachsen, und in den Wogen des Fünfjahrplans ertrinkt.
Aber die von der Rapp begegnen ihm kühl, der Kunstpolitrat tadelt die Feerie, vermißt die positiven Helden.
Die Ausstellung wandert nach Leningrad, doch auf den Plakaten werden die Zeiten verwechselt; überhaupt sind die Massen so uninformiert, daß kaum einer kommt. Majakowski hat eine Erkältung, ist matt und heiser, erstmals bei einem Auftritt versagt ihm die Stimme. Der Arzt meint, es sehe schlecht mit ihm aus, für solch anstrengende Schauspielerarbeit hätte er die Stimme schulen lassen müssen.
Das Zentrale Repertoirekomitee hält sein «Schwitzbad» zurück. Endlich freigegeben fällt es im Dramentheater des Leningrader Volkshauses durch, und dieser Mißerfolg heftet sich dem Autor, der in die Hauptstadt zurückflieht, an die Fersen, um sich bei Meyerhold zu wiederholen.
Keinerlei spezieller Angriff. Was einmal Angriffe heißen wird, sind ein paar kritische Anmerkungen in einem _ etwas anderes behandelnden _ Artikel von Jermilow. Dafür Gleichgültigkeit, hier und da womöglich betont. Doch er verliert die Nerven, ärgert sich über all und jedes, bauscht jede Kleinigkeit auf, macht sich verrückt _ und verliert seine Kräfte, seine Stimme und den Rest seines Selbstvertrauens.
Der letzte Tropfen in dieses Leidensmeer _ der Auftritt im Plechanow-Institut 9. April.
Ob sich wirklich mehr feindliche Stimmen als sonst im Saal befanden, ist schwer zu sagen. Lawut beschwichtigte Spielleiter Slawinski, es sei schon manchesmal so hochhergegangen und jedesmal gutgegangen, Majakowski habe stets triumphiert. Diesmal sollte es aber nicht gutgehen, konnte nicht. Er kam, um die Fäuste zu zeigen und bekam Fäuste zu spüren.
Ein Auftritt ohne Schwung, ohne geschliffene Ansprachen, vorbereitete oder aus dem Stegreif gegriffene Pointen. Wer da auftritt, ist ein düsterer, müder, unsäglich kranker Mann, der nicht fassen kann, was vorgeht im Saal. Das Publikum jugendlich-stupid, die neue proletarische Studentenschaft, Boxkämpfer und Buchstabenbüffler, gekommen, um auf die Pauke zu hauen, ein Faß aufzumachen, die ungewohnten Geistesmühen und die liebe Not mit den Grundlagen der Politökonomie zu vergessen. Und um Spaß zu haben.
Den bekam es.
Die Welt stellt sich vom Fuß auf den Kopf. Er wird nun selber Opfer, eines von ebenjenen, die er sich selbst so zielsicher aus dem Publikum zu greifen wußte, um es, dieses sein Publikum, an seinen wundesten Punkten zu treffen und aufzuspießen, an die Stühle zu spießen _ an seinen Platz unten. Ihm wird mit seinen eigenen Waffen pariert: Fragen, deren Antwort auf der Hand liegt, Antworten ohne Bezug auf die Frage, vernichtende Stempel, höhnisches Auftrumpfen und In-die-Ecke-Verweisen _ das ganze Demagogenarsenal bis hin zur Versinnbildlichung der unsichtbaren Organe …
An dem selbstgehämmerten Haken «Verständlichkeit für die Massen» hängengeblieben, windet er sich, um eine Stellung zu finden, wo es aufhört zu drücken, das alte Wohlgefühl wiederkehrt. «Verstanden?» fragt er das Publikum. Das Publikum antwortet: «Nicht verstanden!» Der Haken drückt. Er liest eine andere Stelle, erklärt wieder, gestikuliert, ringt nach Atem. «Immer noch nicht verstanden?» _ «Immer noch nicht!» _ «Na hört mal, Genossen, das kann nicht sein; wer meine Verse nicht versteht, soll die Hand heben.» Ein paar überaus Gutmütige heben die Hand …
Stellen wir uns diese beklemmenden Augenblicke vor: trübes Licht, Zwielicht, das aufs Gemüt schlägt; auf der Bühne der entnervte Majakowski, schluckend, um den Kehlkrampf herunterzuschlucken, und _ Spottlacher aus dem Publikum, Johlen, die erschrockenen Stimmen zweier Fans (dem einen fällt nichts besseres ein, als ihm in der Pause sein ausgesondertes Porträt zu zeigen) und die unglaubliche Unsinnigkeit, Haltlosigkeit dessen, was die beiden Gegner _ Bühne und Saal _ sich an den Kopf werfen. Alles wie für die Bühne erfunden; selbst der Rädelsführer im Saal ist ein Schreihals namens Krikun, Schreihals …
Tut Majakowski uns leid?
Er tut uns unendlich leid.
Wenn man so viele Verse von ihm studiert, sich so viele Sätze eingeprägt, so viele Tatsachen und Umstände seines Lebens vor Augen geführt hat, kann man gar nicht anders, als sich in Mitleidenschaft ziehen zu lassen und über die unausbleibliche Liebe zu seinem Helden hinaus Mitgefühl zu empfinden, Anteilnahme für ihn als Menschen, einen, der besonders begabt, nicht sonderlich glücklich ist und sich nun solch einer Teufelei ausgesetzt sieht … Vieles fällt hier zusammen: Erstens, wir wissen, womit das endet; zweitens _ Zeuge seiner Leiden geworden, möchten wir alles hinwerfen und umschreiben; drittens, wir haben es schon selber satt, den Spürhund zu spielen und bloßzulegen, bloßzustellen. Und wie wir hier nun zur Bühne aufblicken, überkommt uns Beklommenheit _ ist er uns ein paar Nummern zu groß? Und schon machen alle Schändlichkeiten, die er nun mal, es läßt sich nicht wegreden, begangen hat, Anstalten, sich abzulösen von seiner Person und auf das blödsinnig lachende Publikum überzugehen, und schon drängt es uns, aufzuspringen und zu rufen (nein, nicht ins Publikum _ ins Dunkel hinter den Kulissen): Loslassen! Wer ist das denn, seid ihr blind? Ein Halbwüchsiger nur, ewig Minderjähriger, er will’s ja nicht wieder tun! Laßt ihn los, laßt ihn laufen, laßt ihn zur Mama, zu Briks, zu seinen Freunden _ falls es die gibt, falls es Freunde für ihn überhaupt gibt …
Aber das können wir nicht, wir können nur sehen und hören. Was trägt er der Meute da vor mit so rauher, gepreßter Stimme, fast schon den Tränen nahe?
«Und das Leben ist schön, / und zu leben ist schön, / und unsere Zu…»
So redet er sich ein, wertvoll, unentbehrlich für sie zu sein, so lehrt er sie ihn verstehen.
«Frecher als die Komsomolzenzelle, / als das Hochschullied frecher, / lehre man sie, / die auf die Schulbank sich setzen, / Henker zwitschern zu lassen.»
Diese Verse hätten hierhergehört! Doch es sind ja nicht seine, ein anderer Dichter hat sie gemacht, ein ganz anderer …
Nein, hier regiert eine dunkle Unausweichlichkeit, eine böse innere Logik.
«Irgendein großer Markierer, / Raufer von Kolchosflachs, / Mixer von Blut und Tinte …»
Er hatte ruhig, wenn auch matt mit der unstrittigen Wahrheit begonnen: «Die kolossale Industrialisierung der Sowjetunion wird alle melancholische Lyrik ausradieren!» und endete mit Stutzen, Staunen, Unmut, Bestürzung, Hysterie und schließlich Schweigen…
Das hätte man vorhersagen können. Der Wettlauf um die Gefolgschaft ist von der Individualperson nicht zu gewinnen gewesen, auch solch einer nicht. Ihn hat die Dutzendperson gewonnen, die sprachlose Menge, die Straße, eigens auf die Beine gebracht und herbestellt. Die Straße, auf die Beine gebracht, hat sich hingesetzt und hat gejohlt. Freilich mit anderer als Majakowskis, mit ihr gemäßerer Stimme. Vor diesem Gejohl ist selbst er verstummt und geflohen, vor Entsetzen seinen Spazierstock vergessend _ was ihm noch nie passiert war.
4.
Dies alles im Sinn, wollen wir uns weiterbegeben.
Die Frauen.
In den letzten drei Jahren waren es drei, mit denen er ernsthafte Absichten verband, die daher nicht allein ihn, sondern auch die bleibende Gebieterin seiner Seele, «des judäischen Zions Königin», beschäftigten.
Der einfachste Fall ist Lektorin Natalja Brjuchanenko. Ihre Romanze mit ihm geht bald in freundschaftlich-sachliche, kollegiale Beziehungen über. «Auf wen im Staatsverlag das Auge werfen, wenn nicht Genossin Brjuchanenko.»
Mit Tatjana Jakowlewa wird es schon schwieriger, auch weil die Beziehung enger gerät.
In seinem ersten ihr gewidmeten Gedicht versucht er mit ihr wie Natalja Brjuchanenko umzuspringen, auf die bündige, lässige, proletarische Art:
«Ich nahm diese Schöne und sprach zu ihr / (war es richtig gesprochen, war es falsch?): / Ich, Genossin, komme aus Rußland, / bin bekannt in meinem Land. / Schon schönere Mädchen habe ich, / schon schlankere Mädchen gesehen …»
Doch es erweist sich, daß «es falsch gesprochen» war, sie keine Genossin ist.
Der Herbst 28 beschenkt ihn mit vierzig unbeschwerten, prächtigen Tagen, doch schon im Frühjahr 29 muß er erkennen, daß er wieder nicht der einzige ist. Das wußte er zwar schon vorher, doch wie immer, und wie immer vergeblich, hatte er auf die verdrängende Kraft seiner Wirkung gesetzt.
«Ich habe im Augenblick eine Menge Dramen», schreibt Tatjana an ihre Mutter. «Selbst wenn ich zu Majakowski wollte, wo lasse ich Ilja? Und außer ihm gibt es noch zwei. Ein Teufelskreis.»
Dabei sind es sogar zwei Teufelskreise _ in dem einen sie, im andern er. Trotz seiner Beteuerungen und Schwüre, der täglichen Blumen, Telegramme und Briefe bekommt sie ständig zu spüren, daß der erste Platz in seiner Seele besetzt ist.
«Alle Gedichte (vor denen an mich) waren immer nur ihr gewidmet. Wie verwickelt alles, eine Pein.»
Die Gebieterin ist trotzdem aufgeschreckt. Ein so ernsthaftes Interesse hat er noch nie an den Tag gelegt. Sie weiß über alles Bescheid, Schwester Elsa in Paris hält sie auf dem laufenden. Majakowski selbst läßt sich brieflich nichts anmerken, nur einmal bittet er in aller Freundschaft, einer Frau in Pensa eine Summe zu überweisen, es ist Tatjanas Schwester. Aus Paris kommt er seltsam verändert wieder, gelöster, unbekümmerter, mit neuen Plänen und allerlei Eigenbrötelei: Briefe nach Paris, Überweisungen nach Pensa und dann noch ein öffentlicher Auftritt mit diesen scheußlichen nicht ihr gewidmeten Gedichten …
Auch kommt er nur, um die Inszenierung der «Wanze» zu verfolgen, für knappe zwei Monate, um gleich nach der Premiere wieder davonzusausen. Inzwischen haben wir Februar 29. Von Paris aus wiegt er den Argwohn seiner Gebieterin mit naiver Listigkeit ein: «Nach Nizza und Moskau fahre ich natürlich allein, wie’s sich gehört und sowieso am bequemsten ist.» Dann kommt er zurück, doch abermals nur auf Zeit, bis zum Herbst. Er schreibt Briefe, empfängt Briefe, schickt Telegramme … Dabei scheint manches nicht anzulangen, was an ihn abgesandt worden ist. Wer sich hier eingeschaltet haben mag, die GPU oder Lilja selbst, bleibt ungewiß. Bekannt ist nur (ein Zeugnis von Rita Rait), daß Lilja Brik alle Briefe von Tatjana Jakowlewa nach seinem Tode verbrannt hat.
Noch eine andere Initiative geht von Briks aus. Im Mai 29 macht ihn Ossip mit Veronika Polonskaja bekannt. Wenn das ein Schachzug war, ist er gelungen. Sehr hübsch, sehr jung, erfrischend einfach und aufgeschlossen, erregt sie sofort sein Gefallen. Auch sie ist von ihm beeindruckt, sie schließt sich ihm treuherzig an, freilich nicht ohne einige übliche Befremdensmomente zu überstehen.
So führt er nun zwei Damen am Band, die eine in der Ferne, Tatjana Jakowlewa, die andere in der Nähe, Veronika Polonskaja.
«Ich habe regelmäßig Sehnsucht nach Dir, in den letzten Tagen sogar mehr als das _ öfter», schreibt er Tatjana nach Paris, während er regelmäßig (und öfter) mit Veronika zusammen ist.
Im Juli fährt er wie stets nach dem Süden, dort, in Chost, schickt er Tatjana innige Telegramme, ungeduldig auf Antwort wartend, und trifft sich mit Veronika, um diese dann auch, als sie sich auf kurz getrennt haben, mit Telegrammen zu überschütten. (So daß die fraglichen Zeilen «Ich dränge nicht, wozu mit Telegrammblitzen …» in der Tat der einen wie der anderen gelten können.)
Im Herbst beantragt er die Reise nach Paris, allem Anschein nach um Tatjana «heimzuführen». Daneben hält er sich Veronika weiter warm, nennt sie sein «Bräutlein» und schmiedet Zukunftspläne mit ihr.
Das letzte Telegramm an Tatjana schickt er am 3. August ab und den letzten Brief am 5. Oktober, bereits nach der Reiseablehnung. Erst zweifelt sie noch, ihn trotzdem erwartend, bald spricht sich aber herum, daß er sich mit Heiratsabsichten trage. Wer das Gerücht ausgestreut hat, läßt sich raten, immerhin ist es aber den Tatsachen nicht allzu fern. So glaubt sie, er wolle nicht kommen, zumal ja in den Westen Gegangene schnell zu vergessen pflegen, was eine Reiseablehnung ist.
Im Januar erfährt er von ihrer Heirat. Es schmettert ihn ungemein nieder, was ihn aber nicht hindert, Veronika aufzufordern, ihr Verhältnis zu ihm zu legalisieren. («Dieses Pferd ist verendet», beruhigt er Lilja, «ich steige auf ein anderes um.»)
Das ganze Unglück besteht nun aber darin, daß Veronika _ auch sie, auch sie _ Majakowski nicht allein gehört, sondern verheiratet ist und sich scheut, sich ihrem Mann, an dem sie noch hängt, zu offenbaren. Dergleichen ist ziemlich alltäglich, trägt sich überall zu, und dies hier könnte unerwähnt bleiben, wären die Folgen nicht so verheerend gewesen. Längst hat Majakowski sich angewöhnt, in seinen ständigen Beziehungswirren, dem unablässigen Zwang, wieder herzugeben, was er einmal gewann, das Walten eines bösen Fatums zu sehen, den über ihn verhängten Fluch des Nichtbesitzens.
Veronika will sich nicht scheiden lassen, Veronika will am Künstlertheater bleiben _ das sind Umstände nicht etwa ihrer, sondern seiner Biographie; sie scheinen ihm nur zu bestätigen, daß sich alles stets gegen ihn kehrt, er verdammt ist zu ewiger Benachteiligung. Mit aller Kraft sucht er diese, wie ihm scheint, Fallschlingen zu sprengen, bald schwört er ihr Liebe ein Lebenlang, bald droht er ihr oder beschimpft und erniedrigt sie. Hinzu kommen die hartnäckige Grippe und dies und das andere, uns schon Bekannte … Zuletzt hat er sich so weit gesteigert, daß jede Umgebung, jeder Raum, ob ein öffentliches Lokal, eine Freundeswohnung oder die eigenen vier Wände, ihm vorkommt wie die Bühne des Plechanow-Instituts: überall wittert er Demütigung, Schadenfreude, Feindschaft. Er, der stets so stark, so reich, groß und überlegen war, fühlt sich nun ohnmächtig, leer, klein und lächerlich. Lächerlich! Nur das nicht. Am 12. April verfaßt er ein Memorandum, Punkt für Punkt ein Gespräch entwerfend, das er mit Veronika führen will, um die Entscheidung herbeizuführen; dort fällt gleich zweimal dieses bittere Wort: «unter den Umständen unserer Beziehungen bin ich nicht lächerlich» und «sich nicht lächerlich machen!» Auch das Suizid-Motiv taucht auf: «Ich werde nicht Schluß mit mir machen, dem Künstlertheater nicht diesen Gefallen tun» (Hervorhebung von mir).
Veronika ist entsetzt und ratlos, sie bittet ihn, einen Arzt aufzusuchen, zur Erholung zu fahren, sich für ein Weilchen von ihr zu entfernen _ was ihn jedoch nur noch mehr aufbringt. Die Szenen _ Wut- und Verzweiflungsausbrüche, Anwandlungen von Sadismus und Masochismus _ nehmen kein Ende … Vor ihr ist ein schwerkranker Mensch. Ein nicht nur, wie ihr scheint, zeitweilig kranker, sondern dauerhaft kranker, von jeher kranker, der jetzt nur eine Krankheitsverschärfung erleidet und auf die äußerste Grenze zutreibt.
5.
«Der Gedanke an Selbstmord war bei ihm ein chronisches Leiden», schreibt Lilja Brik (Hervorhebung von mir), «und wie jedes chronische Leiden konnte es unter widrigen Umständen akute Formen annehmen … Sein ewiges Reden von Selbstmord! Das war schon Terror.»
Schon als junger Bursche habe er sich mal erschießen wollen (nach einer anderen Version von ihm _ zweimal). Der Revolver hatte aber eine Ladehemmung, wenn seiner Aussage zu glauben ist, und er ließ es dabei bewenden. Auch diesmal nimmt er alle Patronen bis auf eine heraus. Hofft er, daß es doch nochmal gutgeht?
Einmal beim Kartenspiel, in einer vom Zufall zusammengewürfelten friedlichen Runde wandte er sich plötzlich halb ab, schlug die Hände zusammen und erklärte geradezu belustigt: «Mit Vierzig erschieße ich mich.» (In jüngeren Jahren hatte er mal eine andere Zahl genannt: «Mit Fünfunddreißig _ spätestens.»)
Hierin äußert sich einerseits natürlich die bekannte Furcht vor dem Alter, andererseits eine eingefressene, immer wiederkehrende, schon manisch gewordene Idee, die längst ihre Wurzel verloren hat:
«Dem Schuß entgegen lechzt das Herz, / nach dem Rasiermesser giert die Gurgel.»
Wo in den Versen das Suizid-Motiv erscheint, wurde schon zur Genüge erkundet. Doch es gibt noch ein anderes, genauso häufiges Motiv:
«… ich kröne mich mit meinem Wahnsinn …»; «… der schon halbwahnsinnig gewordene Juwelier …»; «… des Zimmers Visage schreckverzerrt von meinem Geheul und Gelächter …»; «… der auf des Wahnsinnigen Herz gestiegenen Königinnen …»; «… es lebe _ von neuem _ mein Wahnsinn! …»; «… sie kam, und der Gedanke an Irrenhäuser verhängte das Hirn mit Verzweiflung.»
Hier ließe sich wiederum einwenden, daß dies nur poetische Figuren seien. Doch das könnte man von den Suizid-Erwähnungen ebensogut sagen. Von denen zumindest wissen wir, daß sie es nicht sind, nicht nur.
«Und über Steine, spitze wie Redneraugen, / werden, prächtige Väter kräftiger Bände, / wir schleifen maulüber die klugen Psychiater / und hinter die Gitter werfen von Irrenhäusern!»
Woher solch blutige Rache an den Psychiatern?
Über die psychische Gesundheit eines Dichters zu urteilen ist ein heikles und zweischneidiges Unterfangen. In der Tat, zu schwierig, die pathologischen Momente und die Eigenheiten der Persönlichkeit und des Tuns auseinanderzuhalten. An künstlerisch tätige Menschen legen die Ärzte bekanntlich großzügigere Normalitätskriterien als an andere an. Und nur gut so _ wen von den russischen Schriftstellern könnten wir sonst noch als normal ansehen. Majakowski ist da keine Ausnahme, sondern eine Bestätigung der Regel.
«An einen ruhigen, ausgeglichenen Majakowski kann ich mich nicht erinnern», sagte Polonskaja. «Er war entweder sprühend lebhaft, laut und aufgekratzt … oder finster und schweigsam und das dann stundenlang. Wegen nichts und wieder nichts konnte er aus der Haut fahren. Dann war gleich alles aus und vorbei, er blieb übellaunig und unerträglich.»
«Was war er doch für ein schwieriger, schwieriger Mensch!» So Elsa Triolet. Sie schildert ein paar skandalöse Auftritte und erklärt: «Diese belanglosen Fälle erwähne ich nur, um ihre Belanglosigkeit zu zeigen; jedenfalls wenn Majakowski schlechter Laune war, konnte er die eigenen Nerven wie die anderer aufs äußerste strapazieren.»
Sein Leben und das seiner Nächsten wurde noch durch einige Sonderbarkeiten erschwert, deren jede für sich natürlich nicht Krankheit zu nennen wäre, die zusammenbetrachtet aber den Eindruck einer ungesunden Konstellation machen. Reinlichkeitstick _ das ständige Händewaschen; Hypochondrie _ das ewige Temperaturmessen; Verfolgungswahn _ die Furcht vor Räubern und Mördern; pedantischer Ordnungssinn _ jeder Gegenstand hatte bei ihm seinen festen Platz; wenn etwas woanders lag, als es hingehörte, wurde er fuchsteufelswild.
Hinzugefügt sei noch (oder besser gesondert erwähnt, unter dem Stichwort Proletariertum?) die notorische Nörgelei an jeder Art Dienstleuten (zu schweigen von den Zänkereien mit der eigenen Haushälterin), was so weit gehen konnte, daß er den Restaurantdirektor kommen ließ oder lange Beschwerden ins Gästebuch schrieb.
Und das Wichtigste schließlich: der unablässige Gedanke an Suizid, durch die Alters- und Todesfurcht nur noch verschärft _ schon an und für sich lebensgefährlich, auf diesem Hintergrund aber tödlich.
Alle Umstände seiner letzten Monate und namentlich letzten Tage erscheinen wie eine Anballung von Momenten, die auf die Zuspitzung seiner Krankheit gerichtet sind.
Zusehends verfällt er; sein Befinden verschlechtert sich, die Stimmungseinbrüche häufen sich, treten bald mehrmals am Tage auf und werden immer erschütternder. Es ist schier, als ließe jemand mit ungeduldiger Hand den Film seines Lebens schneller ablaufen, um endlich das Ende zu sehen …
Jede zusätzliche Störung kann das Maß voll machen. Als solche Störung tritt nun Veronikas Ablehnung auf (das Theater zu verlassen, nicht mehr zu den Proben zu gehen, für immer in seinem Zimmer zu bleiben, sich ihrem Mann zu erklären …).
Sein Memorandum («Ich werde nicht Schluß mit mir machen …»), sein ganzes Verhalten am letzten Morgen deuten darauf, daß er trotz des Abschiedsbriefes noch unschlüssig ist. Lilja Brik überliefert, solche Briefe habe er auch schon früher geschrieben. Veronika hätte einwilligen und bleiben, der Revolver hätte wieder eine Ladehemmung haben, jemand hätte dazwischenkommen können _ und der Kelch wäre nochmal vorübergegangen. Nur diesmal, wie es den Anschein hat, nicht für lange. Er ist zu entkräftet, zu zerrüttet, er ist wie verurteilt …
6.
Kaum hatte Polonskaja die Tür geschlossen, fiel der Schuß. Als sie zurückkam, lebte Majakowski noch, versuchte sogar den Kopf zu heben …
Als erste waren die Tschekisten zur Stelle, sie hatten es ja nicht weit, näher als alle andern _ von Lubjanka zu Lubjanka. Das allererste Foto _ Majakowski auf dem Fußboden ausgestreckt _ ließ Agranow nur einmal einige Lef-Freunde sehen. Der Leichnam wurde gleich in die Gendrikow-Gasse überführt, und das Zimmer wurde versiegelt, selbst Lilja Brik durfte erst viel später hinein. So Montag der 14. Am Dienstag kehrten Briks wieder, am Donnerstag fanden Trauerfeier und Beerdigung statt. Seinem Rang nach hätte Majakowski eine Lafette gebührt, doch wegen der Todesart wurde er nachträglich degradiert und bekam nur einen Lastwagen zugeteilt. Tatlin beschlug ihn mit Blech, Kolzow setzte sich ans Steuer. Alle Reden handelten natürlich von den «verschiedenen Majakowskis», genauer, den beiden verschiedenen _ der eine als der große Dichter der Revolution (was sich anscheinend mit seinem Tode entschieden hatte), als Optimist und unversöhnlicher Kämpfer, der andere als schwacher, kranker Mensch, der den ersten verdrängt hatte. Nur war man sich noch nicht einig, wann _ ob einen Monat zuvor, einige Tage oder wenige Augenblicke … Alles in allem hatten alle recht. Demjan Bedny fragte in der Zeitung: «Woran fehlte es ihm?» und hatte damit ebenfalls recht.
Das Erbe _ es sah noch bescheiden aus, versprach aber gute Ausmaße anzunehmen _ wurde zwischen den Familien Majakowski und Brik aufgeteilt. Von da an war ihnen ein mehr als leidliches Leben sicher.
Und Veronika Polonskaja? Für sie, nicht ohne Lilja Briks Beitrag, entpuppte sich «der Genosse Regierung» als ein rauhbeiniger Kremlbeamter mit dem sinnigen Namen Schibailo, (Raus-) Schubser. Er bot ihr eine Erholungsreise an. Sie lehnte ab.
Übersetzt von Ilse Tschörtner
Anmerkungen
1. Fortsetzung aus «Studio» Nr. 6 (d.Red.)
2. Revoljuzionny front _ Revolutionäre Front (Futuristengruppierung) (d.Ü.).
3. Verse hier und im folgenden in weitgehend wörtlicher Übersetzung.
4 Mit «Fabrikleuchten» leuchtet natürlich wieder die Daubenfabrik des unsterblichen Fürsten Nakaschidse auf, dieses nicht kleinzukriegende Bild.
5. Gossudarstwennoje Isdateljstwo _ Staatsverlag (d.Ü.)
6. Auch hierin scheiden sich die Geister. Lilja Brik erklärte, sie sei gemeint, Lawut vermutete, Tatjana Jakowlewa, und Veronika (Nora) Polonskaja berief sich auf Majakowski, der gesagt habe: «Dieses Gedicht ist für Norotschka.» Vielleicht hat sie recht, mag sein, bemerkenswert ist nur der Umstand des Streits.
7. Lewy front _ Linke Front (Futuristengruppierung) (d.Ü.)
8. Russkaja Assoziazija proletarskich pissatelej _ Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller (d.Ü.)
9. Es fällt auf, daß die Reiseablehnung wohl von vielen Memoirenschreibern, doch weder von Lilja Brik noch von ihrer Schwester Elsa Triolet erwähnt wird.
10. Alles Schein und Vorgeblchkeit in seiner Welt; auch das Jubiläum ist nicht echt, sondern willkürlich erfunden, übrigens nicht anders als das vorherige «Zwjuwlam», Zwölfjähriges Jubiläum Wladimir Majakowski. Hier lagen seine ersten professionellen Gedichte siebzehn Jahre zurück, er wollte jedoch seine Haft in der Butyrka in Erinnerung bringen und setzte die Berechnung seiner literarischen Arbeit bei ihr an. Über die Gründe seiner Verzweiflung schreibt Ossip Brik später mit naivem Zynismus: «Wolodja sah, wieviel besser als er die diversen schriftstellernden "Raffer und Schmarotzer" lebten, ruhiger, üppiger. Nicht, daß er sie beneidet hätte, nein, aber er meinte eher ein Recht auf Lebensannehmlichkeiten und vor allem Anerkennung zu haben.»